17. Strafarbeit

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Die Sonne war längst verschwunden, als ich am späten Abend völlig erschöpft in meiner Wohnung saß und nach draußen starrte. Obwohl ich den ganzen Tag gearbeitet hatte und deswegen keinerlei Energie mehr zur Verfügung hatte, konnte ich nicht schlafen. Ich starrte in die sternenklare Nacht. Der abnehmende Mond leuchtete schwach am Firmament, nur in der Ferne waren einige Wolken zu sehen. Das Fenster war weit geöffnet und ließ die kalte Nachtluft hinein, sodass ich bereits eine Gänsehaut hatte. Doch ich wusste, dass ich sobald das Fenster geschlossen war, das Gefühl von Ersticken bekam. Ich brauchte die Luft, die Geräusche der Natur um mich, um mich wohl zu fühlen.

Schließlich hielt ich es nicht länger aus, nahm mir den Schlüssel und verließ die Wohnung. Mein Ziel war klar. Der Wald hatte mich immer beruhigt. Als ich endlich den vertrauten, weichen Boden unter meinen nackten Füßen spürte – ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, Schuhe anzuziehen – schien mein Körper beinahe aufzuseufzen. Der Wald schien mich mit offenen Armen zu empfangen, als ich mir einen Weg abseits der befestigen Pfade durch das Dickicht suchte. Ich folgte allein meinem Gespür, ließ mich leiten von meinen Instinkten. Mein Unterbewusstsein wollte zur Lichtung und als ich die Trauerweide sah, die als alter Wächter den Eingang markierte, lächelte ich. Ich schob die herunterhängende Äste beiseite und betrat den vertrauten Platz. Er schien nicht seine übliche Kraft wie an Vollmond zu haben, stattdessen war er viel weniger besucht und energielos. Cernunnos war nicht da. Kein einziges Reh stand hier. Ein paar Kaninchen spielten und zwei Eichhörnchen waren auf Nahrungssuche, mehr war nicht los. Der Ausläufer der Rheinauen war von ein paar Libellen besucht, die munter von einer Pflanze zur nächsten flatterten.

Enttäuscht ließ ich mich im Schneidersitz am Bach nieder und spielte mit einigen Grashalmen, die ich nachdenklich zwischen den Fingern zerrupfte. Wo war mein Hirsch, wenn man ihn brauchte? Irgendwann bekam ich Gesellschaft von einem der Kaninchen, das mir so sehr vertraute, dass es sich von mir streicheln und kraulen ließ. Inzwischen war ich daran gewöhnt, dass die Tiere vor mir keine Scheu zu haben schienen. Ich war schließlich selbst eines von ihnen. Ein Kind der Natur. Ich legte mich auf den Rücken, sah in den Sternenhimmel und hatte jetzt also eines dieser flauschigen Tierchen auf meiner Brust. Es schien meine Körperwärme zu mögen, denn es kuschelte sich irgendwann tiefer in meine Kleidung, die nur aus einem dünnen T-Shirt und einer Jogginghose bestand. Meine Schlafsachen.

Mir war nicht mehr kalt, mein Körper hatte sich an die Kühle gewöhnt. Ich merkte nicht, wie die Erschöpfung ihren Tribut forderte und mich einschlafen ließ. Erst als mich jemand an der Schulter berührte, wachte ich auf und stellte mit Entsetzten fest, dass die Sonne bereits aufgegangen war. Cernunnos durchdringende Augen, die normalerweise tief braun waren, jetzt jedoch ein strahlendes Grün beherbergten, welches wie mein Blau angeordnet war. „Steh auf, Hanna", sagte er noch überflüssigerweise, doch ich saß bereits kerzengerade da. „Mist!", fluchte ich leise. „Wo warst du gestern Abend?", fragte ich dann etwas lauter an ihn gewandt. Er senkte den Kopf. „Überall zur gleichen Zeit zu sein liegt auch mir außerhalb des Möglichen. Du solltest jetzt gehen. Die Sonne steht schon zu lange am Himmel" „Ich... du musst mir helfen!", flehte ich mit bittendem Blick. Doch er blockte wieder ab. „Geh, man vermisst dich in der Arena...", forderte er mich wieder mit seiner ruhigen Stimme auf.

Entsetzen wich meinem bittenden Ausdruck. „Du etwa auch? Hast du dich auf Vitos Seite gestellt? Ignorierst du mich jetzt auch?", fragte ich. „Es gibt keine Seiten in dem Kampf deiner Selbst", erwiderte er und deutete nach vorne. „Los, ich werde dich ein Stück begleiten" Ohne auf meine Reaktion zu warten lief er los und ich folgte. Sicher suchte er sich einen Weg durch das Unterholz, schob die tief hängenden Äste der Trauerweide mit seinem Geweih zur Seite. „Selbst du weichst mir aus", grummelte ich leise und schob mich hinter ihm durch den Eingang der Lichtung. „Du wirst respektlos, wenn du wütend bist", stellte er fest. Seine Stimme, die immer noch gleich sanftmütig klang, machte mich langsam wirklich aggressiv. Es konnte doch nicht sein, dass mir keiner helfen konnte! Ich zuckte mit den Schultern und blieb ruhig, um die aufkommende Wut hinunter zu schlucken. Nicht einmal Cernunnos, ein Gott, hatte eine Ahnung!

Am Waldrand verließ er mich wieder. Betrachtete mich nachdenklich. „Habe Geduld, mein Kind", sagte er noch, dann war er mit einem Satz in das Dickicht gesprungen und verschwunden. Übel gelaunt machte ich mich auf den Rückweg zur Arena. Natürlich kam ich viel zu spät, kassierte einen ordentlichen Rüpel von Ludo und extra viel Stallarbeit, damit ich über mein Verhalten nachdenken konnte, denn ich schaffte es nicht wirklich, meine Laune zu verstecken. Was war so falsch mit der Welt? Warum stellten sich alle gegen mich? Ich wollte schreien, wollte zerstören, wollte einfach weg von hier. Zurücklassen, frei sein, wieder ich selbst sein. Mit Vito – ach halt, ging ja nicht.

„Hallo, Hanna!", grüßte plötzlich jemand, während ich noch damit beschäftigt war, mich selbst unter Kontrolle zu halten. Dann fiel mir ein, in welcher blöden Ecke ich gelandet war zum fegen und sah zur Seite, um die Fans zu begrüßen. Mit meiner letzten Selbstbeherrschung setzte ich ein Lächeln auf und grüßte zurück. „Und wie geht es so?", fing die Rothaarige ein Gespräch an. „Gut. Und dir?" Du lügst, Hanna. „Auch. Reitest du heute in der Show mit?", fragte sie freundlich und mit einer Fröhlichkeit, die mir gerade gar nicht in den Kram passte. „Weiß nicht. So wie es aussieht nicht", erklärte ich und führte meine Arbeit fort.

„Sag mal, läuft da eigentlich etwas zwischen Charles und Marion?", fragte eine Andere mit langen, braunen Haare. Sofort stellten sich meine Zellen auf Aufmerksamkeit. „Keine Ahnung, habt ihr etwas mitbekommen?", ging ich sofort darauf ein und unterbrach das Fegen. Synchron schüttelten die drei den Kopf. „Sie tun in der Show nur so extrem verliebt, das ist das Einzige, was auffällt", erklärte die große Braunhaarige. Interessiert nickte ich. „Offiziell sind sie noch nicht zusammen, aber wenn ihr mich fragt" Ich wurde leiser und beugte mich etwas nach vorne, nachdem ich versichert war, dass keiner der Beiden in der Nähe stand. „Das passiert sehr bald" Die Mädchen brachen in Gelächter aus, doch meine Laune hob es nicht, also fegte ich weiter. Ich machte, dass ich schnell mit der Ecke fertig war, dann musste ich nicht in Vitos Nähe sein, der seine Box ebenfalls hier bezogen hatte, doch mir wieder keinen Blick gewürdigt hatte.

Nach meiner Strafarbeit beschäftigte ich mich mit meinen Pferden, beziehungsweise mit Nevados Rücken. Vito übergab ich Marion, die ihn mal zur Probe in einer Show ritt. Ich sah mir die Vorführung an und staunte nicht schlecht. Es musste wirklich an mir liegen, denn unter Marion ging er fleißig und schön. Selbst beim Trickreiten gab er sich Mühe. Ich kannte ihn und wusste, dass er eigentlich damit Schwierigkeiten hatten, vor allem mit dem Gleichgewicht. Ein wenig schwankte er auch, was darauf hinwies, dass er immer noch kein Meister darin war, aber er gab sich Mühe. Deutlich. Als wollte er mich absichtlich verletzen. Warum bloß? Ich wusste nicht, ob ich traurig oder wütend sein sollte. Ein wenig fühlte ich von beidem. War es meine Schuld oder seine? War es unsere Schuld? Was war der Auslöser gewesen? Der Ausritt am Anfang der Saison? Als er so durchgedreht war? Oder in der Nacht davor?

Marion kümmerte sich rührend um meinen Falben, also ließ ich sie machen. Wenn er an mir kein Interesse mehr hatte, sollte sie ihn doch übernehmen. Solange, bis ich endlich auf des Rätsels Lösung gekommen war. Aber ich ging nicht davon aus, dass das in der nächsten Zeit war.

„Was mache ich falsch?", fragte ich missmutig, als ich ihr beim Absatteln zusah. Als ich ihr helfen wollte, hatte Vito warnend die Ohren angelegt, also tat ich ihm den Gefallen und blieb auf Abstand. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie es sich anfühlt, den alten Vito unter dir zu sehen?", fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu. Meine Freundin schüttelte den Kopf. „Nein. Aber es fühlt sich genial an, wieder die volle Aufmerksamkeit vom Publikum zu bekommen, nur weil man selbst das schönste Pferd reitet", erklärte sie lächelnd. Wahrscheinlich hatte sie deswegen gute Laune und ließ sich nicht von meiner Miese anstecken, die immer noch anhielt. Jedenfalls fiel meine Reaktion etwas entsetzt aus. „Ist das alles, woran du denkst? An Erfolg und Berühmtheit im Publikum?" Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich bin Stuntreiter in einer Show, natürlich lebe ich von der Anerkennung der Zuschauer"

Ehe ich antworten konnte, knallte plötzlich eine Tür weiter hinten laut zu. Ich zuckte zusammen und auch einige Pferde warfen erschrocken den Kopf hoch. Kurz darauf hörte ich laute Schritte, die sich wütend entfernten.

Moondancer - PferdeträumerOnde histórias criam vida. Descubra agora