34. Realisieren

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Beim gemeinsamen Abendessen sprachen wir über meinen Auftritt in Kaltenberg. „Du bist die Waldläuferin, die das schnellste Pferd besitzt, das der Gute braucht, um zu gewinnen. Das weißt du ja. Wie weit lautet dein Plan bis jetzt?", schnitt mein Meister das Thema an. „Was ich auf jeden Fall drin haben will, um Nevado zu präsentieren, ist das Freilaufen. Er darf von oben herunterkommen, also zwischen den Zuschauern durch galoppieren und zwei Runden durch die Arena rennen, dann will ich ihn vielleicht einmal über den liegenden Vito springen lassen, einfach um seine Kraft zu zeigen oder so. Aber ich weiß nicht, ob ich das hinkriege, da Nevado noch nicht so gut springt und ich nicht weiß, ob Jovito liegen bleiben wird. Es hat sich etwas verändert in den letzten Monaten. Er hat sich von mir entfernt. Ich habe seit Monaten kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Inzwischen bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob er mich versteht. Seit er angegriffen wurde, ist er total neben der Spur, reagiert nur noch stumpf und ist irgendwie mit der Seele nicht da", erklärte ich ausführlich und schob mir einen Löffel Gemüseauflauf in den Mund. Ich war hungrig nach der langen Reise und auch die aufregende Zusammenkunft mit Marco, die mich glücklich gestimmt hatte. Zwar mussten wir irgendwann voneinander lassen, weil sich meine Bauchschmerzen wieder gemeldet hatten, doch trotzdem war ich glücklich. Zumindest für diesen Moment. Bei ihm hatte ich mich wieder lebendig gefühlt.

„Hmm", machte mein Meister nachdenklich. „Aber Nevado reagiert auf alles, was du sagst?" Ich nickte. „Viel besser als Vito. Ich habe das Gefühl, dass ich mit dem Falben von vorne anfangen muss, aber der Andere macht es mir dafür umso einfacher. Er wird kein Problem sein. Eben das gewünschte Sprungtraining fehlt mir noch und an seiner Konzentrationsfähigkeit werde ich arbeiten müssen. Ansonsten läuft er wunderbar. Zumindest vom Boden aus, ich saß lange nicht mehr im Sattel". Den letzten Satz sagte ich nur leise.

„Dann schau, dass du auf jeden Fall deine Konzentration vollkommen auf den Falben legst. Beschäftigte dich mit ihm, stundenlang. Von mir aus, geh spazieren, ausreiten oder sei einfach bei ihm. Und geh auf gar keinen Fall allein. Nehme entweder ein erfahrenes und problemloses Pferd mit oder gehe mit einer zweiten Person raus. Nur für den Fall" Ich seufzte bei seinem Vorschlag, dann überlegte ich eine Weile und beichtete ihm schließlich: „Das letzte Mal, dass ich auf Vito gesessen bin, war noch bevor die Arena angefangen hat. Irgendwann im April. Danach ist nur noch unter anderen Menschen gelaufen, weil ich nicht in der Lage war", meinte ich traurig. Mario stöhnte auf. „Das ist nicht dein Ernst, Mädchen?" Schuldbewusst senkte ich den Kopf und murmelte ein leises „Doch". „Morgen früh bist du um 9 Uhr pünktlich in der Halle, hast den Falben gesattelt und Schritt geführt, damit wir gleich anfangen können", brummte er beinahe fassungslos. Für ihn war es unverständlich, wie ich mich dem verweigern konnte. Das Muster der Tischdecke war auf einmal ziemlich interessant.

Etwa eine Stunde später lag ich im Bett, hatte Marcos halb auf mir liegen, da er mich als Kopfkissen missbrauchte, und starrte an die Decke. Mit einer Hand strich ihm sanft immer wieder über die Wange, genoss seine Nähe und versuchte mir doch einzureden, dass es gar nicht Marco war, der auf mir lag, sondern irgendjemand anderes, da ich so den Schmerzen ein wenig entfliehen konnte. So vermied ich es auch, ihn anzusehen. „Was ist eigentlich passiert", fragte er irgendwann. Meine Hand an seinem Gesicht hielt inne. „Wieso?", gab ich misstrauisch zurück. „Du warst nie ein Mensch der vielen Worte gewesen, aber irgendwie redest du fast gar nichts mehr. Du weichst anderen Menschen aus, ziehst dich zurück, läufst beinahe geduckt und mit eingezogenem Kopf durch die Gegend. Außerdem hast du an Gewicht verloren. Du warst vorher schon schlank, aber da warst du noch gesund schlank. Inzwischen habe ich das Gefühl, du zerbrichst, sobald ich dich umarme. Und dann ist die Sache mit den Pferden. Vorher haben deine Augen geleuchtet, wenn du sie gesehen hast, du hast mit ihnen geredet, du hast gelacht, du hast ihnen all deine Fürsorge geschenkt. Jetzt siehst du so aus, als würdest du ihnen nur noch ungern gegenüber treten. Und dein Pferd sieht genauso schlimm aus. Was ist passiert?", wiederholte er.

Mir schossen die Tränen in die Augen, als er das Offensichtliche aussprach. Es war, als würde es mir erst jetzt auffallen. Er hatte Recht, ja. Meine Finger krallten sich in das Bettlaken, als ich realisierte. Was war eigentlich passiert? Was war aus mir geworden? Als ich leise schluchzte, drehte er sich sofort um und kroch zu mir auf Augenhöhe. „Hey, nicht weinen", flüsterte er fürsorglich und zog mich in eine Umarmung. Ich krallte mich an ihn, ließ mich in die vertraute Wärme fallen.

Er hatte Recht.

Und ich realisierte.

„Es tut mir leid", brachte ich erstickt hervor. „Was denn?", fragte er sanft, ohne zu drängen. „Ich... es ist doch alles meine Schuld. Es hat damit angefangen, dass ich es als zu selbstverständlich gesehen habe...", begann ich zu erklären. Und dann erzählte ich ihm alles. Von Vito, seinem Handeln, der Nachtarena, dem Streit mit den Anderen, den Halluzinationen und schlussendlich von dem Kampf. Die Erinnerung daran rief wieder die Verzweiflung hervor, die ich so kannte.

Und er hielt mich einfach fest, wartete ab, bis ich geendet hatte.

„Es ist ok", murmelte er und machte eine Pause. Hielt mich fest, während ich gegen die Härte der Realität ankämpfte. Versuchte, das Loch in mir zusammenzuhalten. Nicht auseinander zu fallen und nicht aufzugeben.

Dann setzte er erneut an. „Es ist in Ordnung, wie du dich fühlst. Du darfst dich schlecht fühlen. Du darfst am Boden sein und verzweifelt sein. Ganz ruhig, hörst du? Nicht alles im Leben ist schön und gut und perfekt! Niemand hat dieses Glück ein rundes Leben zu führen. Es gibt Höhen und Tiefen und da muss man durch. Versuche einfach wieder aus dem Loch herauszukommen, ja? Ich bin für dich da. Ich liebe dich"

Seine Worte kamen bei mir an, doch sie erreichten mich nicht. Ich versuchte auf ihn zu hören, ihn zu mir durchdringen zu lassen, doch sobald ich die Gefühle wieder zuließ, bekam ich Bauchschmerzen. Also stellte ich mir einfach vor, er wäre ein Fels in der Brandung, an den ich mich klammerte. Und das war er auch. Er hatte mir zugehört. Vielleicht hatte ich das gebraucht. Es ging mir ein wenig besser, nachdem ich mir alle Sorgen von der Seele geredet hatte, doch ich wusste noch immer nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ich reagierte nicht auf die sieben magischen Buchstaben, die seinen Mund verlassen hatten. Was bedeutete schon ‚Je t'aime' für mich? Ich konnte ihn nicht lieben. So gerne wollte ich es, doch ich spürte wieder das Messer in meinem Magen.

Verzweifelt stieß ich ihn von mir. Ich war auf einmal überfordert. Von seiner Anwesenheit, die mir befremdlich erschien, sobald ich den Gedanken wieder daran verschwendete, was ich war und zu was ich nicht fähig war. Niemals konnte ich eine Beziehung anfangen! Warum klammerte er sich überhaupt noch an mich und der Vorstellung, dass es klappen würde? Ich schaffte es nicht einmal, eine Bindung zu einem Tier aufzubauen, wie sollte ich da mit einem emotional geladenen Menschen zurechtkommen? „Geh", sagte ich in dem Versuch, möglichst fest zu klingen. Aus meinem Mund kam ein gezittertes Gestammel. Verwirrt rutschte er ebenfalls etwas zurück, um mir in das Gesicht zu sehen. Ich rollte mich zusammen, versuchte mein Gesicht vor ihm zu verbergen. Ich wollte ihm den Anblick ersparen.

„Hanna?", fragte er verwundert, streckte seine Hand nach mir aus, doch ich drehte mich weg. Sobald ich ihn nicht mehr sehen konnte, bekam ich endlich wieder die Kontrolle über mich zurück. Das Eis, das ein wenig getaut war, während er da gewesen war, bildete sich erneut. Legte sich über mein Herz, schloss das tiefe Loch in meiner Seele, dass hineingerissen worden war und durch sein fortgeschrittenes Alter schon ganz vernarbt war. Ich bezweifelte, dass es jemals wieder heilen würde. Doch momentan half mir das Eis, es zu schließen und der Frost hielt meinen Körper zusammen.

„Ich kann nicht, Marco. Ich kann nur wiederholen, was ich damals im Winter vor meiner Abreise sagte. Suche dir jemand anderen, ich bin es nicht wert, dass man mir nachtrauert", sprach ich kalt. Er wollte etwas sagen, mehrmals hörte ich ihn scharf die Luft einziehen, dann seufzte er tief und verließ das Zimmer. Erst, als die Tür zu war, ließ ich wieder einen Teil meiner zurückgehaltenen Emotionen zu, umarmte mich selbst in der Embryo Stellung, ließ das zu, was ich vorher schon versucht hatte. Das Realisieren von dem Geschehenen. Es war der erste Weg, das wusste ich. Ein erster Schritt, damit klarzukommen. Denn ich war mir sicher, dass ich es nicht mehr ändern konnte. Ich weinte mich in den Schlaf, wachte wieder auf, weil mich die Albträume heimsuchten, weinte erneut, wachte wieder auf und fiel schließlich um kurz vor fünf Uhr am nächsten Morgen, nachdem ich lange einfach meinen Gedanken schweifen ließ, in eine kurze Tiefschlafphase.

Wenn ich so weitermachte, würde ich niemals die Kraft finden, um in Kaltenberg mitzureiten.

Moondancer - PferdeträumerOnde histórias criam vida. Descubra agora