4. Trainingseinheit

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Mein nächster Weg führte zu Vito, der inzwischen wach war. Nichts erinnerte mehr daran, was gestern gewesen war. Mit aufgestellten Ohren erwartete er mich an seiner Box, als er mich kommen hörte. Unwillkürlich musste ich lächeln. Mein schöner, großer Hengst...

„Na?", fragte ich leise zur Begrüßung und streckte meine Hand nach ihm aus. Vito berührte meine Handfläche sanft mit seiner Nase. Es schien alles wie früher, doch noch immer wechselte er kaum ein Wort mit mir. Es war nicht so wie früher, als er ununterbrochen mit mir geredet hatte. Ich nahm es hin, dachte nicht weiter darüber nach und richtete ihn. Wie ich mir vorgenommen hatte wollte ich mit dem Training beginnen, nachschauen, wie weit Mario ihn gebracht hatte. Und in unserer neuen Reithalle konnte er nicht unter mir abhauen, wie er es gestern im Gelände gemacht hatte. Ludo hatte jahrelang die Parkleitung genervt, dass wir endlich eine richtige Reithalle bekommen würden. Das provisorische Zelt heizte sich im Sommer viel zu schnell auf, sodass während der Mittagszeit das Reiten recht schwierig wurde. Das neue Gebäude war aus Stein und diente in einem extra Abschnitt noch als Abstellkammer für den Park. Die Luftzirkulation wurde ebenfalls durch ein spezielles Lüftungssystem geregelt. Dieses war recht einfach aufgebaut, doch genial. Wir würden im Sommer nie wieder unter einem stickigen Zelt reiten müssen.

Außerdem war das Gebäude innen gut ausgeleuchtet, weshalb wir auch später im Herbst und jetzt noch bis in die Abendstunden den Platz nutzen konnten.

Vito jedenfalls benahm sich ziemlich artig während meinen betont langsamen Handgriffen. Zuerst putzte ich ihn ausgiebig, versuchte auf diese Art und Weise wieder an ihn ranzukommen, doch er blieb weiterhin ruhig. Er gab nicht einmal mehr eine Antwort, als ich ihn direkte Fragen stellten. Ob der Sattel noch passen würde, da er deutlich muskulöser war als letzten Sommer oder ob die Trense nicht unangenehm war. Diese war den ganzen Winter nicht in Benutzung gewesen und etwas steif. Doch er blickte mich nur aus seinen dunklen, klugen Augen an und gab keinen Laut von sich.

Ich fühlte zwar meine innere Ruhe und Ausgeglichenheit, die mir erst wieder mit seiner Anwesenheit zurückgekommen waren, doch das Band, welches uns zuvor verbunden hatte, war irgendwie verschwunden. Als hätte es jemand durchtrennt, als ich gestern seinen Rücken bestiegen hatte. Es war offensichtlich, dass ich diese Aktion zutiefst bereute.

Mit einem leichten Ruck zog ich den Sattelgurt fest. Es war etwas fester als gewöhnlich, ich hoffte, dadurch eine Reaktion von ihm zu erhalten. Doch ich wurde wieder enttäuscht, er zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ich war mit meinem Latein am Ende, ich würde ihn wahrscheinlich nicht so einfach wieder erreichen. Allerdings brauchte ich nicht besonders lange bis ich eine Entscheidung getroffen hatte. Ich würde noch einmal ganz von vorne anfangen müssen, sein Vertrauen erneut gewinnen, doch diesmal arbeitete ich nicht mit einem komplett verstörten Pferd, diesmal arbeitete ich mit einem Tier, welches hoffentlich endlich eine solide Grundausbildung hinter sich hatte und mit weitaus weniger naiven Ideen wie die, die ich im vergangenen Jahr hatte. Wir waren beide noch zu jung und naiv gewesen, das wurde mir klar. Inzwischen hatten wir etwas mehr vom Leben gesehen, es war doch erstaunlich, wie viel sich in einem halben Jahr ändern konnte. Und wie weit unsere Weltsicht dadurch ging. Alles löschen konnten wir nicht, aber wir konnten versuchen, die Dateien, die uns zur Verfügung standen, neu zu ordnen und zu überarbeiten.

Mit einem etwas mulmigen Gefühl führte ich ihn schließlich einige Runden in der neuen Halle Schritt. Der Hengst sah sich einige Momente um, entschied dann, dass die Umgebung ungefährlich war und folgte ruhig meiner führenden Hand. Nach fünf Minuten entschied ich, dass es genug war und begann mit dem ernsten Teil der Trainingseinheit.

Es dauerte eine Weile bis wir uns aufeinander eingestellt hatten, doch dann lief es ziemlich flüssig. Ich arbeitete nur einfache Übungen ab, konzentrierte mich vor allem auf das Parieren und ordentliche Halten. Ließ ihn am langen und kurzen Zügel laufen, solange bis er aus allen Situationen sofort anhielt, wenn ich es wollte. Ich war überrascht, wie gut es ging, hatte ich nach der Aktion von Gestern noch alles bezweifelt. Doch der Falbe lief mit ordentlicher Manier, Mario hatte eine ganze Menge mit ihm geschafft in den letzten Monaten. Aber es fehlte etwas. Es fühlte sich so an, als säße ich auf irgendeinem Pferd, nicht auf Jovito. Es hätte Nevado sein können oder gar Aguilito, es hätte kaum einen nennenswerten Unterschied gemacht.

Am Ende des Trainings ließ ich mein Pferd am langen Zügel einige Runden im Schritt entspannen. Wir zuckten beide zusammen, als die Tür plötzlich aufging und Marion die Halle betrat. Ihr langes, blondes Haar hatte sie zu einem unordentlichen Zopf geflochten und sie trug statt ihrer üblichen hautengen Sachen diesmal eine Jogginghose und einen weiten Pullover, der aussah, als hätte sie ihn Ludo gemopst. Nicht einmal ihren geliebten, blauen Lidschatten hatte sie aufgetragen. Um es kurz zu fassen, sie sah aus wie frisch aus dem Bett gefallen.

„Guten Morgen, Hanna.", gähnte sie und lehnte sich an die Bande. Aus den Augenwinkeln warf ich einen Blick auf die Uhr. Es war nach 11 Uhr. Grinsend zog ich eine Augenbraue hoch. „Es ist schon fast Mittag!", machte ich sie freundlich darauf aufmerksam. Sie zuckte die Schultern. „Wurde spät letzte Nacht..." „Habt ihr eure Ankunft in Deutschland gefeiert?", wollte ich wissen und hielt in der Mitte der Halle an. „Hmm.", gab sie nur als Antwort und ich musste beinahe lachen. Ich beherrschte mich. Die Cavalcade saß abends gerne zusammen und trank etwas, das wusste ich inzwischen. Nicht, dass ich mich dieser Tradition anschloss. Dass Marion mitgegangen war, verwunderte mich allerdings dann doch ein wenig. „Wie kommt's?", fragte ich weiter, denn normalerweise war Marion vernünftig und ging eher selten feiern. Die Blonde machte eine wegwerfende Handbewegung und vergrub stöhnend das Gesicht in den Händen. „Kopfschmerzen. Nicht so laut, bitte.", nuschelte sie dazwischen und ich kam ihr entgegen, Vito am Zügel. „Hast du zu tief ins Glas geschaut?"

Erneut schüttelte sie den Kopf und sah mich kurz an. Jetzt, da ich ihr etwas näher war, konnte ich auch die tiefen Augenringe erkennen und immer noch geröteten Augen. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht geweint. „Was ist los?", fragte ich besorgt, doch sie wiederholte ihre ablehnende Geste von vorhin. „Muss ich darüber reden?", murmelte sie. „Glaub mir, es würde dir danach besser gehen. Aber nein, du musst nicht." Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern und holte dann ihr Handy aus der Hosentasche. „Schau's dir selber an...", grummelte sie und reichte mir das Gerät. Sie hatte kein Passwort drin.

Als ich fragend zwischen ihr und dem Display hin und her schaute, sprach sie erneut: „SMS", half sie mir auf die Sprünge und ich sah nach. Ganz oben war als Absender Chris eingespeichert. Mir schwante böses.

Es wurde einige Momente still zwischen uns, während ich die letzten Nachrichten von ihm überflog. Währenddessen zogen sich meine Mundwinkel bestimmt immer weiter nach unten. Bis ich schließlich mit offenem Mund dastand und ihr das Handy zurückreichte. „Hat er nicht getan...", stieß ich hervor. Also ich hatte ihm ja schon einiges zugetraut, aber das hatte selbst mich vom Hocker gehauen. „Boah...", brauchte ich erneut heraus. Und noch einmal. „Boah..." Eine Mischung aus Entsetzen und Überraschung. „Genau.", pflichtete mir Marion nun bei und seufzte lang und tief. Ich verkniff mir einige schlimme Bezeichnungen für Chris, legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie einfach mit mir zurück zu Vitos Box. „So einer hat dich nicht verdient.", erklärte ich nur und sie nickte. „Immerhin fiel der Abschied von ihm leichter als von Thorgal. Es stimmt nämlich schon, wir hatten uns einfach auseinandergelebt, ich hatte auch nicht mehr viel für ihn übrig. Aber diese Aktion fand ich echt unter aller Würde. Er hat sich einfach nicht getraut, mir das noch vor meiner Abreise nach Deutschland zu sagen..."

„Er ist ein Mann, was erwartest du?", kommentierte ich und brachte sie so ein wenig zum Schmunzeln. „Du hast Recht.", meinte sie und damit war das Thema auch wieder gegessen. Da war jetzt also eine von uns wieder Single. Warum auch nicht, ich gönnte es ihr. Wenigstens hatte Chris noch die Freundlichkeit besessen und es relativ zeitnah gemacht. Es wäre doch sinnlos gewesen, sie lange hinzuhalten, obwohl sie beide wussten, dass sie sich lange nicht sehen würden.

Ich wechselte dann auch zügig das Thema. Meinen liebgewonnen Kollegen, mit dem ich letztes Jahr so viel Zeit verbracht hatte, war von jetzt an also ein Tabuthema. Wir redeten über belangloses Zeug, ich versuchte Marion etwas aufzumuntern, die die ganze Geschichte relativ mitgenommen hatte. Währenddessen kümmerte ich mich um den Falben, versorgte ihn, versuchte noch zweimal ihn anzusprechen, doch stieß auf Mauern. Ich würde es die nächsten Tage wieder probieren. Es hatte keinen Sinn, ihn permanent damit zu nerven. Wenn er mich nicht näher lassen wollte, dann sollte er seine Ruhe bekommen.

Im weiteren Verlauf erklärte Ludo uns noch die restlichen Pläne für die kommenden Wochen. Die nächsten zwei Wochen würden wir damit verbringen, Material für die Show herzustellen und danach würden wir anfangen für die Show zu trainieren, deren Skript schon komplett stand. Nach all den Jahren mit den Musketieren würden endlich wieder Ritter Einzug in die Arena halten. Ich freute mich darauf.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now