49. Triste

483 53 15
                                    


Als das Training begann merkte ich es das erste Mal. Erst hatte ich es auf die Müdigkeit geschoben, die die durchwachte Nacht mit sich geführt hatte, doch selbst als mein Geist im Laufe der Einheit immer wacher wurde, passte es nicht mehr. Mir fehlte mein Feingefühl in den Fingern, sodass ich Nevado mehrmals stärker in das Fell drückte, als beabsichtigt. Er machte mich dann jedes Mal darauf aufmerksam und so pendelte es sich schnell wieder zwischen uns ein.

Marion hatte uns bereits eine ganze Weile zugesehen, als ich das Training mit meinem Schimmel beendete und zu ihr an den Rand der Halle kam. „Es sieht doch ganz gut aus", lobte sie das Gesehene. Ich zuckte mit den Schultern. „Nevado ist nicht das Problem, der ist wunderbar und tut das, was ich gerne von ihm hätte. Würde Vito auch nur ansatzweise so laufen, wie Nevi es hier zeigt, wäre das schon mehr als ich mir bis zu den Shows erhoffe" „Er verweigert sich dir immer noch?", fragte sie überrascht. „Leider ja. Du kannst ihn gerne wieder reiten, wenn du willst. Dann vergisst er vielleicht nicht vollständig, wie sich das anfühlt", erklärte ich. Die Tatsache traf mich nicht mehr. Es war inzwischen einfach ein trauriger Fakt. „Bist du überhaupt einmal auf ihm gesessen seit du zu Mario bist?", staunte meine Freundin. Ich schüttelte den Kopf. „Kaum. Einmal bei Mario, ganz kurz. Keine drei Minuten. Dann ging nichts mehr. Weder bei ihm, noch bei mir. Und am Tag darauf noch einmal, aber da lief es auch nicht so gut" An die Erinnerung daran zog sich alles in mir schmerzhaft zusammen und ich wandte mich kurz ab, um nicht vor ihr wieder in Tränen auszubrechen. Es waren die Gefühle, die mit der Erinnerung kamen: Versagen, Wut auf sich und Trauer über den Verlust einer Freundschaft zu einem Tier. „Bist du sonst überhaupt einmal auf einem Pferd gesessen?", bohrte sie weiter nach. „Seit dem nicht mehr. Mario hat mich in Ruhe gelassen, die ganzen Wochen seit dem Vorfall mit Lea. Wochenlang war ich alleine mit den Pferden. Ich glaube, dass Mario beide Pferde hin und wieder geritten ist, ich bin jedoch dann auf dem Boden geblieben, obwohl ich kurzzeitig das Gefühl hatte, es wurde besser. Ich war viel im Wald spazieren. Aber sonst... nein", antwortete ich. „Du bist echt verrückt... du bist bei Mario angestellt, sollst die Pferde trainieren und bist seit Wochen aber nicht mehr auf dem Pferd gesessen. Komm mit, das ändern wir gleich" Ich hielt sie auf, indem ich sie am Arm festhielt. „Nicht", flehte ich und sie hob verwundert die Augenbrauen. „Ja, ich bin vielleicht verrückt geworden. Und vermutlich hat Mario mich überhaupt noch längst nicht rausgeschmissen, weil ich ein Moondancer bin und deshalb zu wertvoll, oder... keine Ahnung. Vielleicht planen sie auch irgendetwas hinter meinem Rücken, ich weiß es einfach nicht. Es ist mir auch egal. Aber bitte, zwing mich nicht auf einen Pferderücken, solange ich nicht sicher sein kann, dass ich wieder normal bin", bat ich leise.

Marion schwang sich über die Begrenzung der Halle, die uns bisher voneinander getrennt hatte und nahm mich behutsam in die Arme. „Nein, ich zwinge dich nicht. Aber ich würde mich trotzdem freuen, wenn du mitkommst. Vielleicht magst du ein wenig Abwechslung" Ich zuckte mit den Schultern. „Später vielleicht. Lass mich erst Nevado versorgen" „Ok, dann nutze ich auch gleich die Gunst der Stunde und besuche Jovito", lächelte sie mich an und entfernte sich von mir. Ich rief meinen Wallach zu mir und brachte ihn zurück in seine Box. Durch die Gitterstäbe konnte ich sehen, dass Marion bereits bei dem Falben, der neben Nevado sein Quartier hatte, mit einer weichen Bürste putzte. Er ließ es sich gefallen, starrte aber wieder ausdruckslos vor sich hin. Es sah doch zwischendrin wieder so gut aus! Gestern war er doch echt aufmerksam bei der Sache gewesen. „Er sieht ganz schön schlecht aus, weißt du das eigentlich?", erinnerte mich plötzlich die blonde Frau wieder an das klägliche Bild des ehemals so stolzen Tieres. „Mach es nicht noch schlimmer, indem du mich ständig darauf aufmerksam machst. Physisch ist er vollkommen in Ordnung", grummelte ich als Antwort. Sie gehorchte.

Einige Zeit später folgte er ihr gesattelt in die Halle. Mehr aus Neugierde und Anstand als durch ehrliches Eigeninteresse lief ich ihnen nach. Irgendwie hoffte ich, dass Vito auch bei ihr aufgeben würde, damit ich mir nicht vollkommen wie der letzte Idiot vorkam. Natürlich wurden meine Gebete nicht erhört. Es war keine Besonderheit, wie er lief. Aber er lief überhaupt. Das war schon mehr als er bei mir tat. Er hörte stumm auf die Anweisungen von seinem Reiter, wirkte dabei aber nicht glücklich. Immerhin etwas. Sie konnte seine Lebensgeister also auch nicht wecken. Nach einer halben Stunde hielt sie vor mir an, um ihr Fazit loszuwerden. „Naja, er ist deutlich unmotivierter als in Rust. In Rust war es noch so, als wollte er sich anstrengen und mir beweisen, dass er ein wundervolles Pferd ist. Jetzt wirkt er einfach wie... du. Kaputt und dauerhaft erschöpft. Würde ich nicht wissen, wozu er fähig ist, würde ich fast sagen, er ist einfach faul. Aber das kann nicht sein". Ich seufzte. „Zu dem Schluss bin ich auch schon gekommen und vermutlich ist es die Wahrheit. Aber ich bin mit meinem Latein am Ende. Vielleicht kriegst du ihn wieder hin?" „Nein, das glaube ich nicht. Das müsst ihr unter euch regeln", sagte sie und ließ sich von seinem Rücken gleiten. Vito starrte auf den Boden und blies mit seinem Atem ein leichtes Loch in den staubigen, trockenen Sand der Halle.

„Das versuche ich ja, aber, ach... lassen wir das Thema. Ich will davon nichts mehr wissen. Wann ist heute in der Arena euer Training?", wechselte ich das Thema. „Erst gegen Abend, wenn es kühler wird. Solange haben wir noch Freizeit. Also, schnapp dir Nevado oder Triste und wir gehen eine Runde im Schritt ins Gelände", versuchte sie mich wieder in den Sattel zu locken, doch ich verzog das Gesicht. „Jetzt hör schon auf. Es wird schon wieder der Tag kommen, an dem ich reite", murmelte ich. „Auch nicht wir beide zusammen auf Triste? Ich pass dann schon auf, dass du nicht runterfliegst" Das brachte mich tatsächlich zum schmunzeln und gespielt empört stemmte ich die Hände in die Hüfte. „Glaubst du ernsthaft, ich habe Angst runterzufallen?" „Naja... du klingst so", grinste sie.

Ich verdrehte die Augen. „Wenn dir so viel daran liegt, dann von mir aus...", gab ich nach. „Jetzt mal im Ernst, wovor hast du Angst?", bohrte sie tiefer nach. Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. „Keine Ahnung. Kontrollverlust? Ist alles ein wenig schwieriger geworden, seit Vito damals bei unserem Ausritt durchgegangen ist, weißt du..." „Seit dem schon?" Überrascht riss sie die Augen auf. „Kann sein, keine Ahnung...", meinte ich leise, „Aber, das ist doch auch nicht wichtig, oder?", sagte ich dann wieder lauter und sah sie bittend an. „Ok, alles gut. Also los, sonst schaffen wir es nicht zum Mittagstraining zurück" Sie beeilte sich Vito fertig zu machen, während ich mich schon einmal mit Triste anfreundete, der sich bereitwillig von mir kraulen ließ. Der Apfelschimmel war von sanfter Natur, ein richtiger Kumpel. Er ließ sich von kaum etwas aus der Ruhe bringen und absolut brav und verlässlich. Zum Reiten dagegen war er kompliziert, er brauchte klare Hilfen und ständig etwas für den Kopf, sonst fing er an sich selbst zu beschäftigen und das ging selten gut aus. Marion kam wunderbar mit ihm klar, sie hatte ein Händchen für solche Pferde.

Wir sattelten ihn nicht. Meiner Freundin reichte auch die Trense, vor allem weil wir zu zweit auf ihm waren. Also half sie mir kurz darauf, hinter ihr auf dem bloßen Pferderücken Platz zu nehmen. Es fühlte sich keineswegs merkwürdig an, auch nicht ungewohnt, es war, als wäre nie etwas passiert. Vermutlich störte mich das daran am Meisten. Einerseits war es gut, dass es für mich so gewohnt war, doch andererseits fehlte dadurch etwas. Ob es die Magie vom Reiten war? Ob es die Magie der Pferde war, die ich bisher immer wahrgenommen hatte? Ob es zu selbstverständlich geworden war auf dem Pferderücken zu sitzen? Ich wusste es nicht.

„Und? Siehst du, so schlimm ist es gar nicht", merkte Marion an, die wohl gemerkt hatte, dass ich mich ein wenig entspannt hatte. „Vielleicht hast du Recht, vielleicht auch nicht", gab ich zweifelnd von mir. „Komm schon, Reiten ist toll!", grinste sie und drehte den Kopf zu mir. Ich seufzte. „Jetzt hör schon auf, Marion. Ich bin kein Kind mehr" Da wurde sie schlagartig ernst. „Das ist leider richtig", meinte sie trocken und drehte sich wieder nach vorne: „Das Kind in dir ist endgültig verschwunden".


Moondancer - PferdeträumerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt