62. Vertraue deinem Gefühl

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Am nächsten Morgen hatte mir Marion frische Kleidung mitgebracht. Während ich mich umzog, begann sie bereits das Gespräch auf vergangene Nacht zurückzubringen. „Du wirkst verändert. Viel ruhiger und entspannter", fing sie an. Ich zog mir das dunkle T-Shirt über den Kopf und meinte, durch den Stoff etwas gedämpft: „Ja, das kann sein. Fred ist auch ein Cernunnos, er hat mir alles erklärt und ich glaube, jetzt wird endlich alles gut", fasste ich zusammen. „Er ist was?", fragte sie überrascht und so erklärte ich ihr kurz, was sich vergangene Nacht abgespielt hatte. Den Teil mit den Göttern und genauere Details ließ ich weg. Sie war schließlich nur ein Mensch und ihr Glaube an Götter war nicht unbedingt der Größte.

„Hast du zwischendurch mal wieder mit Vito gesprochen?", wollte sie wissen, als ich geendet hatte. „Nein, das wollte ich als nächstes machen. Kommst du mit?" Das ließ sie sich nicht zweimal sagen und ich nahm mir noch ein paar Karotten, um ihn vielleicht ein wenig versöhnlicher zu stimmen. Der Hengst war ebenfalls ganz entspannt, als ich ihn begrüßen kam.

„Guten Morgen", lächelte ich und gab ihm eine Karotte. Er antwortete nicht, was mich erst ein wenig enttäuschte, aber dann akzeptierte ich es. Ich hatte ja nicht erwarten können, dass alles auf einmal einfach wieder gut sein würde. Schließlich war es meine Schuld und ich wusste noch nicht, ob ich mich ihm wieder genug geöffnet hatte. Ich wusste nicht, ob es mir nur so vorkam, doch das Pferd wirkte ebenfalls viel ruhiger und ausgeglichener. Ruhig fraß er die Möhren aus meiner Hand. „Redet er?", wollte plötzlich Marion wissen, die uns bis jetzt stumm beobachtet hatte. Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich denke, das kriegen wir wieder hin, nicht wahr?", meinte ich an Vito gewandt, der seine Ohren in meine Richtung drehte, sobald ich wieder meine Stimme benutzte. Ob er mich verstand und ich nur ihn nicht?

‚Er lebt in dir', hatte Fred gesagt. Aber wo in mir? Wo sollte ich anfangen zu suchen?

Ich kümmerte mich um Nevado und kehrte erst gegen späten Abend wieder in den Stall zurück. Es war ruhig geworden, die Meisten waren schon schlafen gegangen und so nutzte ich die Zeit, um mich eine Weile zu meinem Falben zu setzten, der mich ruhig akzeptierte. Er suchte meine Nähe nicht, er hielt Abstand, reagierte aber keineswegs abweisend. Eine Weile saß ich einfach da, versuchte mit mir und mit ihm ins Reine zu kommen, gelangte aber zu keinem Entschluss.

„Guten Abend", riss mich jemand plötzlich aus meiner Ruhe. Fred stand wie aus dem Nichts aufgetaucht hinter mir. „Hallo", erwiderte ich ohne Aufzusehen. Er schwieg.

Nach einer Weile stand ich auf und drehte mich zu ihm um. „Wie kann ich ihn wieder erreichen?", fragte ich. „Und weiß er, dass ich es versuche?", fügte ich noch schnell hinzu. Der Komponist beantwortete zuerst die letzte Frage: „Natürlich weiß er es, sonst würde er sich noch vor dir fürchten. Momentan wartet er auf dein Zeichen", erklärte er. „Welches Zeichen? Und wie kann ich es ihm geben?", wollte ich weiter wissen. „Das kann ich dir nicht sagen, das weiß ich nicht. Du könntest höchstens versuchen, den Teil deines Geistes, der ihm gehört, wieder zu öffnen". Frustriert seufzte ich. Irgendwie hatte ich Jovito so viel zu sagen und fand doch keine Worte. Nichts, was wichtig wäre. Ich wollte ihn einfach wieder fühlen können.

„Vertrau einfach deinem Gefühl. Du kannst nichts mehr falsch machen", meinte er dann, als ich weiterhin ruhig geblieben war. „Hab ja auch schon alles falsch gemacht, was man falsch machen kann", murmelte ich leise. „Ach was, Vito hat dir schon längst verziehen, du musst nur noch dir verzeihen. Du hast es bis an diesen Punkt geschafft, an dem du jetzt stehst, obwohl selbst wir ein paar Mal geglaubt haben, wir verlieren dich. Also kann nichts mehr passieren". „Sicher", antwortete ich wenig überzeugt. „Dann lass ich dich mal wieder alleine, bis Morgen", verabschiedete er sich und entfernte sich. „Bleib doch noch ein wenig", bat ich leise und setzte mich wieder auf den Boden. „Du haust immer so schnell ab! Ich meine, ich weiß, dass du nicht gerade der menschenzugeneigte Typ bist, aber du kannst mir trotzdem gerne Gesellschaft leisten", erklärte ich genauer und sah erwartungsvoll zu ihm hoch. Er war tatsächlich stehen geblieben. „Wenn du willst. Eigentlich wollte ich euch zwei nicht stören", er schmunzelte und stellte sich wieder hinter mich. Vito fraß neben mir entspannt etwas von seinem Heu, sah immer wieder zu mir und zu Fred. Schließlich blieb sein Blick eine ganze Weile an dem Komponisten hängen. Er trat etwas näher in dessen Richtung und stellte seine Ohren auf. Irritiert sah ich wieder zu dem Anderen hoch.

„Was ist?", wollte ich wissen. Fred ließ sich eine Weile Zeit mit antworten. Ich wollte gerade meine Frage wiederholen, da löste er seinen Blick von dem Pferd. „Er will wissen, ob es für dich in Ordnung ist, wenn er dich berührt" Überrascht blickte ich zu Vito, dann senkte ich gerührt den Kopf und streckte meine Hand mit der Handfläche nach oben in seine Richtung. „Natürlich", flüsterte ich. Erst als ich seine weiche, vertraute Schnauze in den Händen spürte, hob ich wieder meinen Blick und sah ihn direkt an. Dann strich ich ihm vorsichtig über die Wange und schließlich über den Hals. Sein goldenes Fell fühlte sich weich an wie immer und doch war es nicht das Gleiche. Mehr wie ein Neuanfang. Seine Reaktion machte mir klar, dass er das mindestens genauso sehr vermisst hatte wie ich. Ein oder zweimal zuckte seine Haut noch reflexartig zurück, aber ansonsten blieb er ganz ruhig und entspannt.

Vielleicht ging es auch ohne Reden. Schließlich gab es so viele Menschen da draußen, die mit ihren Pferden wunderbar klar kamen, ohne dass sie sich verbal unterhielten. Man musste sich nicht auf diese Weise verstehen, man konnte auch Freunde sein ohne ein Wort zu wechseln. Bei anderen klappte das auch.

„Ich überlege mir etwas", versprach ich ihm. Wir würden von vorne beginnen. Und egal, was noch kommen würde, ich würde mir einfach die Zeit nehmen.

Moondancer - PferdeträumerOnde histórias criam vida. Descubra agora