53. Gauklernacht

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Das erste Wochenende begann mit der Gauklernacht, das hieß, dass wir an diesem Freitag keine Show zeigten, sondern die Bühnen ganz den Musikern und Artisten gehörten. Natürlich ließ sich das kaum einer aus unserer Gruppe das nehmen, denn schließlich war das schon ein richtiges Fest, mit jeder Menge Bier und Mittelalter, Musik und Tanz.

Wein, Weib und Gesang, wie es die Barden wohl ausdrücken würden.

Marion ließ mir keine Wahl. „Damit du mal wieder auf andere Gedanken kommst", meinte sie grinsend, „Das ist richtig schön, da kannst du den Markt auch mal genießen, sonst hast du jedes Mal kaum Zeit, weil du dich für die Show vorbereiten musst". Also ging ich mit ihr mit. Wir kamen etwas später, als das Fest schon im vollen Gange war. Natürlich kannte ich das Gelände schon, schließlich verbrachte ich hier das Meiste meiner Zeit, doch so belebt kannte ich es noch nicht. Und es hatte sofort eine ganz andere Ausstrahlung. Von überall her roch es nach Essen, Musik erklang von den Bühnen, Gespräche der Menschen, überall glitzerte und blinkte selbst gemachter Schmuck, Fahnen, Rüstungen, kunstvoll geschnitztes Holzbesteck, Glöckchen klingelten an Füßen, es war fantastisch. Natürlich hatte ich das letztes Jahr schon einmal erlebt, als ich für einen Tag zu Besuch gewesen war, doch da waren wir ein wenig im Stress gewesen und ich hatte gar nicht die Zeit gehabt, alles anzuschauen. Jetzt, so ganz ohne Turnier am Abend, war alles entspannter.

Und trotzdem war es vor allem eines: Voll ohne Ende. Ich hielt mich dicht an Marion, die mir den Vortritt ließ, denn ich fühlte mich trotz meiner starken, menschlichen Seite, in solchen Menschenmassen nicht wohl, blieb aber trotzdem an jedem zweiten Stand bewundern stehen, weil mir irgendetwas besonders gut gefiel. Bald darauf gingen wir etwas Essen und setzten uns dazu in eine ruhige Nische. „Das Highlight von heute ist das große Feuerwerk am Ende des Abends", erzählte sie, während wir unsere Dönerähnlichen Fladen verspeisten. Natürlich waren es keine Döner, wie man sie aus der Pizzeria kannte, nein, es war die mittelalterliche Version, mit Kraut, Fleisch, Soße und was man dazu wollte. Und es schmeckte so viel besser und frischer als die künstlichen Sachen vom Türken.

„Aber bis dahin gibt es noch jede Menge Konzerte und Shows, vor allem die Show von Entr'Act ist gut, die verbinden Musik mit artistischen Elementen und das richtig schön, das schauen wir uns nachher auf jeden Fall an", schlug sie vor und ich nickte. „Wenn du das schon so sagst, dann muss es echt gut sein". Ich grinste und sie erwiderte es. „Ist es, glaub mir. Und dann, ich weiß ja nicht, wie viel Mittelaltermusik du magst, aber du wirst sicher etwas finden, was dir gefällt. Tanzwut ist da, die sind auch nicht schlecht. Auch wenn es für mich auf Dauer nichts ist", fuhr sie fort. „Noch irgendetwas, was ich sehen muss?", fragte ich belustigt und sie schmunzelte. „Es ist alles schön, was sie heute Abend darbieten, aber natürlich, nichts kann da mit unserer Show mithalten", sie zwinkerte und ich lachte auf: „Nachher macht Nevado nicht mit und wir haben die größte Blamage des Jahres" „Ach was, du kannst das so gut, du brauchst keine Angst haben. Sieh mal, du stehst keine fünf Minuten im Rampenlicht, ich dagegen fast die gesamte Show!", versuchte sie mir das leichte Lampenfieber zu nehmen. „Du machst das doch auch schon ein paar Jahre länger als ich!", empörte ich mich. „Na und? Da kann trotzdem was schiefgehen. Aber das ist jetzt auch egal, lass uns den Abend genießen!" Wir beeilten uns fertig zu essen und stürzten uns dann wieder ins Getümmel. Entr'Act waren tatsächlich eine Augenweide, aber auch Danny und Mik, die zwei Barden mit Humor, waren toll. Fast wären wir daran vorbeigelaufen, da sie ihre Show komplett auf Deutsch machten und Marion sie deshalb kaum wahrnahm, aber als ich ihr einige Abschnitte übersetzte, musste auch sie lachen und wir blieben kurz bei den ‚Schlagerstars des Mittelalters'.

Das nächste große Highlight war der Umzug sämtlicher Gruppen über das Gelände. Da sich jetzt die Menschen auf die Umzugsstrecke konzentrierte, gab es kaum noch ein Durchkommen und ich bekam es wieder mit der Angst zu tun, sodass Marion und ich uns weiter hinten auf einen Zaun setzten, um von dort das Geschehen zu sehen. Das komplette Fußvolk, die Heerlager, die morgen mit uns auch in der Arena sein würden, lief mit, sowie sämtliche Narren und Gaukler und die Musiker. Zwischendrin stoppten einige Gruppen immer mal wieder, um ein kurzes Kunststück zu zeigen, Feuerspucker sengten uns beinahe die Haare ab, während die schwarzen Ritter, ohne ihren Boss, der es vorgezogen hatte, die Menschenmassen zu meiden, versuchten, kleinen Kindern Angst zu machen. Uns kannten sie schon und sicherlich hätten sie uns auch geärgert, wenn wir nicht so weit hinten gewesen wären. Stattdessen bekamen wir nur einen bösen Blick, schließlich waren wir ja die Guten.

Marion beugte sich grinsend zu mir herüber. „Die teeren und federn immer mal wieder Leute auch aus unseren Reihen, gerade wenn sie neu sind, also pass auf". Entsetzt sah ich sie an. „Dein Ernst?" Sie nickte, „aber mich haben sie bisher verschont, also ich denke, Frauen lassen sie in Ruhe. Allerdings, wenn tatsächlich wieder jemand von uns erwischt wird, musst du dir das unbedingt ansehen, das ist unglaublich lustig". Vorhin hatte ich schon einmal im Vorbeilaufen einen Blick auf das Lager der schwarzen Ritter werfen können, als sie gerade eine Hexe verurteilten und ich hatte mich da schon herzlich amüsiert. So ganz wusste ich noch nicht, ob das böse Schergen oder einfach ein Haufen Komödianten waren.

So viele Eindrücke prasselten auf mich ein, dass ich später immer müder wurde, trotzdem ließ ich mich noch auf das Nachtkonzert von Tanzwut ein. Inzwischen war es schon dunkel, was die Stimmung umso mehr anheizte. Viele hatten auch schon ein paar Bier intus und die tanzbare Musik gab ihnen den Rest. Viele um mich herum tanzten wie in Ekstase zu den kräftigen Rhythmen der großen Trommeln der Band. Ich ließ mich von der Musik anstecken und schaffte es sogar bis kurz vor die Bühne, wo die Musik viel lauter und die Menschen weiter in den Hintergrund rückten. Das Bier hatte ich heute auch probiert, es war mir aber zu herb. Ich fühlte mich ein wenig benebelt, von der Müdigkeit und dem Adrenalin, welches mein Körper durch die anregende Musik ausschüttete, sodass ich erst gar nicht mitbekam, dass meine Freundin nicht mehr da war. Doch auf einmal realisierte ich es.

Und sofort wurde ich von der schieren Gewalt an Eindrücken ertränkt. Die Menschenmasse, die auf einmal viel zu laute Musik und die damit verbundene Panik. Eilig bahnte ich mir einen Weg aus der Masse heraus zur Seite, hielt kurz nach Marion Ausschau, doch konnte sie nicht finden. Erschöpft ließ ich mich zu Boden sinken und es war, als ob mein Schutzschild heruntergefahren wurde. Das Schutzschild, welches mir bisher geholfen hatte, alles mit meinen menschlichen Augen zu sehen. Mit Menschenaugen war alles viel einfacher. Da sah man nicht so viel, da wurden die Informationen besser gefiltert. Mit den Sinnen eines Pferdes, einem Fluchttier, war das das Gegenteil. Da war alles, was sich irgendwie bewegte, wichtig genug, um realisiert zu werden. Und jetzt bewegte sich alles: Die Leiber der Tanzenden, die Musik, deren Schallwellen die Luft um mich herum in Schwingung zu bringen schien, die Fahnen, die überall hingen, selbst der Boden, als mir auf einmal schwindlig wurde. Vielleicht hatte ich zu wenig getrunken, vielleicht war ich einfach zu müde.

Ich musste hier weg.

Ohne noch weiter auf meine Freundin zu warten lief ich in Richtung Ausgang. Doch dort waren noch mehr Menschen, die jetzt, gegen Ende, auf den Parkplatz strömten und ich fand mich in einer Flut aus Bewegung, Körpern, Gerüchen und Stimmen wieder, sodass ich erst schneller lief und dann zu rennen begann. Den Hügel, auf dem das Schloss stand, bergab in Richtung Wald. Marion war den ganzen Tag als neutrale Person dagewesen, vertraut und beschützend. Und dann war sie auf einmal weg und ich konnte meine schützende Fassade nicht mehr aufrecht erhalten. Die Flut, die ich die ganze Zeit so zurückgehalten hatte, stürzte jetzt wie ein Bruch eines Staudammes auf mich ein, überschwemmte mich und riss mich weg. Ich stolperte durch die Dunkelheit in den Wald hinein, weg, einfach weiter weg von dem Fest mit all den Emotionen und der Fröhlichkeit. Mit all dem Lärm und den Farben. Der Wald umfing mich mit seiner Ruhe, seiner Regungslosigkeit und seiner sanften Wärme. Die Blätter raschelten leicht in der sommerlichen Brise und einige Tiere waren noch wach, ich konnte sie hören. Ich schloss die Augen.

Auf dem Schloss wurden die letzten Raketen des Feuerwerks gezündet.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now