61. Moondancer

528 56 16
                                    


Dieses Mal erwachte ich wieder auf der Lichtung, ich lag als Pferd in dem hohen Gras, Fred saß neben mir im Schneidersitz und schien mit geschlossenen Augen ganz in Gedanken versunken zu sein. Ich machte mich mit einem leisen Brummeln bemerkbar und er wandte sich sofort mir zu. „Und?", fragte er. „Wie viel weißt du?", gab ich zurück bevor ich irgendetwas erzählte. „Nur, dass die Götter dich sehen wollten", antwortete er gelassen. „Naja, sie haben mir die Wahl gelassen, ob ich ein Pferd oder ein Mensch sein möchte. Wie du siehst habe ich mich für das Erste entschieden", fasste ich knapp zusammen und stand wieder auf. Er lächelte. „Das war die richtige Entscheidung"

„Wie lange war ich weg?", wollte ich dann wissen und sah zum Tümpel. Ich hatte Durst. „Nicht so lange, vermutlich kam es dir länger vor als die Zeit hier tatsächlich vergangen ist", antwortete er und deutete auf das Wasser. „Das kannst du bedenkenlos trinken", las er meine Gedanken. Dankbar trottete ich an das Ufer, wo ich vorhin noch mein Spiegelbild gesehen hatte. Jetzt glänzte die Wasseroberfläche wieder im Schein des Mondes, der sich hell darin spiegelte. Ich senkte meinen Kopf, um das Nass meine trockene Kehle hinunterfließen lassen zu können. Es tat so unglaublich gut, es erfrischte mehr als ich es gewohnt war und vermutlich hatte Fred da seine Finger im Spiel. Der Cernunnos beobachtete mich ruhig und schien schon wieder weit weg von dem aktuellen Geschehen zu sein.

„Was ist?", machte ich ihn darauf aufmerksam und er zuckte zusammen. „Du erinnerst mich sehr an sie", murmelte er und blickte nach unten. „Nathalie?", fragte ich und er nickte. Nathalie... Der ehemalige Moondancer von Mario. Aber wenn Sam für mich zuständig war, dann... „Du warst ihr Cernunnos!", stieß ich überrascht hervor. Erneutes Nicken. Kaum merklich. „Deswegen ist es mir so wichtig, dass ich dir helfen kann", meinte er. „Ich habe bei ihr schon versagt, dich jetzt leiden zu sehen und daneben stehen ohne etwas tun zu können... Mario hat mich anfangs zurückgehalten, danach war es Arijas Entscheidung, damit du die Wahl hast. Damit du selbst entscheiden kannst, was du sein willst. Du trägst Nathalies Geist in dir, es war von Anfang an klar, dass du eine starke, menschliche Seele brauchst, nachdem sie durch ihren Selbstmord dem Pferd in sich großen Schaden zugefügt hat. Wir haben deinen Weg begleitet, seit deiner Geburt. Wir haben bewusst dich als Mensch ausgewählt, weil du einfach geeignet erschienst. Mario braucht keine Rennpferde, keine Traber, und trotzdem hat er immer mal wieder welche von deinem Vater gekauft, damit du zu uns kommst. Ich war dabei, als sie einen neuen Körper für Nathalies Seele gesucht haben, alles war geplant von Anfang an, alles verlief nach Plan. Bis die Magier deine Art entdeckten und alles dafür taten, mehr von euch zu bekommen. Sylvain war ein Spion, wir wussten das damals nicht, wir haben es zu spät gesehen. Und als wir es dann sahen, rechneten wir nicht damit, dass er so stark war und wollten selbst mehr über ihn erfahren, also ließen wir ihn in deine Nähe. Als klar wurde, dass er stärker war als erwartet, waren wir hinter ihm her, konnten aber nicht viel ausrichten, ohne uns nicht auch noch zu verraten. Dann bekam Sam die Vision und wir arbeiteten den Plan aus, der irgendwie funktionieren musste. Wir wussten von Magiern so wenig wie sie über uns. Vermutlich hätten wir, jetzt im Nachhinein, die Hexen um Hilfe beten sollen. Die bekriegen sich schon seit Jahrtausenden und wir hatten sogar eine vor unserer Nase ohne es zu sehen. Deine Freundin, Eliza heißt sie, glaube ich. Aber wir waren zu spät. Und wir hatten dein Leben riskiert. Bewusst. Es tut mir leid, Hanna, wirklich. Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen", endete er traurig.

Ich trat zu ihm, senkte meinen Kopf und stupste ihn leicht an. „Ich lebe noch und noch ist nichts verloren. Wir mussten alle lernen", sagte ich sanft. Irgendwo war da immer noch Fred, der Mensch und Komponist, der in seiner Lebensaufgabe versagt hatte und sich deshalb zurückgezogen hatte.

„Wie ist das eigentlich mit der Cernunnos Geschichte?", wollte ich wissen, „Wie läuft das ab? Seid ihr auch so ein Mischding aus Mensch und Gott?", fuhr ich dann neugierig fort. Er stand auf. „Lass uns zurückgehen, dann beantwortete ich dir alle Fragen unterwegs" Mit langsamen Schritten lief er zielstrebig zurück in den Wald und erst, als wir wieder im Schatten der Bäume waren, begann er zu erzählen. „Weißt du, es ist nicht ganz richtig, wenn man uns als einen Gott bezeichnet. Wir sind ein Naturgeist, erschaffen aus der Energie und meistens in Form eines Menschen, damit wir nicht auffallen und trotzdem bei euch sein können. Und es gibt nicht mehrere Naturgeister unter dem Namen Cernunnos, wir sind alle Eins. Es ist schwierig zu erklären, man kann sich das mit den gängigen Vorstellungen von Göttern nicht gut vorstellen. Ich kann jede beliebige Gestalt annehmen, wir sind nichts mehr als die gebündelte Energie der Natur. Wir haben alle einen Verstand, wir denken alle gleich. Deswegen sehen Sam und ich auch exakt gleich aus und deshalb hat er seine menschliche Gestalt lange vor dir verborgen, damit du das nicht sofort bemerkst. Sonst wäre es vermutlich zu viel für dich gewesen. Als er dann bei Mario war hat er sich bewusst eine Hintergrundgeschichte ausgesucht und sich ein eigenes Bild erschaffen, mit dem meine Figur wenig zu tun hat. Hinzu kam, dass er eine jüngere Gestalt gewählt hat und somit die Ähnlichkeit nicht ganz so groß war. Im Gegensatz zu mir ist er deutlich mehr Naturgeist als ich. Ich bin jetzt solange in meiner menschlichen Form, ich bin im Großen und Ganzen ein Mensch, ich habe mich von der richtigen Materie abgesondert. Wie ein Wassertropfen von einem See", versuchte er zu erklären. Gespannt lauschte ich. „Also bist du unsterblich?", fragte ich weiter. „Nicht mehr. Meine menschliche Hülle ist genauso sterblich wie deine. Mein Geist ist es aber nicht, er geht nach dem Tod meiner Hülle wieder dorthin zurück, von wo er gekommen ist und wird wieder Teil des Sees"

Jetzt wurde mir seine Weisheit klar. Seine Gleichnisse, sein Talent für die Musik... Und sein Umgang mit Jovito. Und warum er von der Kabbala so fasziniert war. Vielleicht war das Cernunnos Sein die höchste Stufe im Baum des Lebens.

„Hast du mit Jovito gesprochen?" Ernst sah mich der schwarze Ritter an, dann nickte er langsam. „Ich möchte dir jetzt keine Hoffnungen machen, ich weiß nicht, wie weit dein Geist schon ist. So lange von ihm getrennt zu sein wird vermutlich einen gewissen Schaden mit sich gebracht haben. Deswegen, er soll es dir selbst erzählen, wenn ihr wieder so weit seid. Er hat niemals aufgehört zu reden, du hast ihn nur nicht mehr gehört. Er vermisst dich. Er hatte niemals böse Absichten gehabt, in keiner Sekunde. Erst hat er das getan, was wir von ihm verlangten, um dich zu retten und dann war er selbst verwirrt. Dazu kam, dass er sehr wohl noch deinen Geist gespürt hat und so abgeschottet und depressiv wie du warst, das hat ihm der Rest gegeben. Er hat viel probiert, um an dich heranzukommen, er war richtig verzweifelt. Ich weiß nicht, ob er aktuell überhaupt noch glaubt, dich jemals wiederzubekommen", erzählte er und ich bekam unglaubliche Schuldgefühle. Wie sehr ich den armen Hengst verletzt haben musste... Es war nun einmal alles meine Schuld gewesen, auch wenn Fred sie versuchte von mir zu nehmen.

„Warum war Nathalie nicht da, als ich in Frankreich war?", lautete meine nächste Frage. Er zuckte mit den Schultern. „Ich war nicht dabei, als ihr sie besuchen wart, aber ich glaube, du hattest dich schon zu sehr verschlossen um sie wahrzunehmen. Deine Vorstellung von dem Hund hat dich ganz eingenommen. Wenn du mich fragst, war das ein Schutzinstinkt deines Verstandes, der dich auf eine Sache fokussiert hat, um nicht auseinanderzufallen und um sich selbst am Leben zu erhalten" Als ich mich daran erinnerte schloss ich kurz gequält die Augen. Damals, als mir klar geworden war, dass Lea niemals echt gewesen war und sie mich vor dem Durchdrehen bewahren mussten. „Warum hatte Sam damals gesagt, er kann nichts tun wenn er in Frankreich ist?", wollte ich als Nächstes wissen. „Weil es mein Territorium ist. Er hat sich erst geformt, als du auf die Welt gekommen bist, er wächst mit dir mit, wenn man das so sagen will. Und er hängt deshalb noch wie an einer Nabelschnur mit seinem Wald in Verbindung. Er kann sich zwar frei umher bewegen, aber je weiter weg er von seiner Heimat ist, desto schwächer ist seine Kraft. Auch, weil er keine feste Gestalt hat, so wie ich. Er ist noch sehr abhängig von seiner Umgebung", erläuterte mir mein Begleiter geduldig.

Der Stall kam langsam in Sicht, also stellte ich meine Fragen ein. Ich brannte darauf, Jovito wiederzusehen. Auch wenn ich tatsächlich nicht die Hoffnung hatte, es würde sofort alles wieder so werden wie früher. Das wäre einfach zu sehr Happy End. Aber wir hatten jetzt alles überstanden, wir mussten nur noch zueinander finden. Fred zog die Stalltür auf und ließ mich hinein. Einige Pferde sahen neugierig auf, andere schliefen bereits, wir bemühten uns leise zu sein. „Willst du schlafen? Du bist sicherlich müde nach all dem", bot mir der Mann an. „Erst will ich mein Pferd sehen. Und wie sieht es mit dir aus? Bist du Mensch genug, um Schlaf zu benötigen?" Er lachte leise. „Ich kann schlafen, wenn ich will und ich kann auch müde sein, aber ich nehme mir meistens die Energie aus der Umgebung, das heißt, eigentlich schlafe ich selten"

Langsam lief ich an jeder Box entlang. Es erfüllte mich mit einer inneren Ruhe all diese Tiere zu sehen und zu wissen, wenn sie Hilfe brauchten, konnte ich ihnen helfen. Nevado begrüßte mich freundlich, doch als ich zu Jovito trat, schlief der Hengst bereits. Er wirkte so friedlich, wie er dalag und träumte, also ließ ich in Ruhe und kehrte zu dem Cernunnos zurück, der in der Mitte der Stallgasse auf mich gewartet hat. „Er schläft", erklärte ich ruhig. „Dann lass uns doch noch ein wenig spazieren gehen und die Vollmondnacht genießen", schlug er vor und ich nahm diesen Vorschlag an.

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now