9. Danke, Marion

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Cernunnos sagte mir nichts und doch kam es mir bekannt vor. Den Namen musste ich mir merken, vielleicht konnte ich ihn dann später im Internet nachschlagen. „Mächtiger Name...", murmelte ich nachdenklich. Der Hirsch lachte leise. Ein tiefes, belustigtes Brummen aus seiner Kehle. „Aber er bedeutet nichts. Namen sind nur Schall und Rauch. Wichtiger ist viel mehr, wofür ich stehe" Er zwinkerte vorsichtig und lief dann mit eiligen Schritten an das Lichtungsende, wo sich zwei seiner Hirschkühe stritten. Sobald er bei ihnen war, hörten sie augenblicklich auf. Intensiv wechselten sie einen Blickkontakt und beide Tiere senkten unterwürfig den Kopf.

Merkwürdige Situation, der Hirsch hatte definitiv eine mir unbekannte Macht auf seine Welt. Ich drehte mich um und trottete zu Marion zurück, darauf bedacht, keines der kleinen Lebewesen auf der Lichtung zu zertreten. Als sie mich sah, setzte sie vorsichtig ein kleines Eichhörnchen wieder auf den Boden, welches auf ihrem Arm geschlafen hatte. Es blubberte missmutig, als die plötzliche Körperwärme des Menschen fehlte. Alles war hier merkwürdig, in dieser Lichtung. Tiere schienen keine Scheu mehr voreinander zu haben und Fressfeinde spielten Seite an Seite zusammen. Ich sah zu dem Fuchs, der übermütig mit zwei Kaninchen durch die Gegend sprang. Keines der schwächeren Wesen schien Angst vor ihm zu haben. „Gehen wir?", fragte Marion leise und strich mir über die lange Mähne. Wie flüssiges Silber glitt sie zwischen ihren Händen hindurch, obwohl ich genau wusste, dass normale Menschen den Glanz nicht wahrnahmen. Für meine Freundin sah ich aus wie ein normaler, aufgehellter Apfelschimmel.

„Ja", erwiderte ich und warf einen letzten wehmütigen Blick auf die Lichtung. Wenn es am schönsten war, ist die Zeit gekommen, zu gehen. Im Stillen versprach ich dem Ort und Cernunnos wiederzukommen. „Wie lange ist noch Nacht?", wollte ich wissen. Sie schob das Gestrüpp der Trauerweide zur Seite und verschaffte uns somit einen Durchgang nach draußen. „Geht noch eine Weile, ich schätze, es ist kurz nach Drei", meinte sie und schob sich hinter mir aus dem Dickicht. „Gehen wir noch ein wenig laufen oder willst du schlafen?" Sie überlegte kurz, dann zuckte sie mit den Schultern. „Ich bin nicht wirklich müde, eher aufgeregt vor der ersten Show morgen... Machst du eigentlich mit?" Ich schüttelte den Kopf. „Denke nicht und wenn, dann nur als Ritter. Meine Haare sind ja noch nicht einmal blond"

Marion neben mir lachte plötzlich auf. „Stimmt, weißt du, das könnten wir nachher, wenn es hell ist, eigentlich machen" Sie hielt kurz inne, wahrscheinlich stellte sie sich die Aktion vor dem inneren Auge vor. „Das wird bestimmt lustig!", freute sie sich, doch mich stimmte das Ganze eher missmutig. Meine schönen, braunen Haare. „Wird es nicht", widersprach ich. „Oh doch...", sie freute sich wie ein kleines Kind. „Ich geb dir gleich lustig.", murmelte ich drohend, als sie nicht aufhörte zu kichern. Warnend hob ich meinen Hinterhuf und stampfte damit wütend auf.

„Stell dich doch nicht so an. Männer stehen auf blonde Frauen!", stellte sie grinsend fest. „Marco hat mich auch mit braunen Haaren gemocht", brummelte ich trotzig. „A pro pos, Marco. Erinnere mich daran, dass ich ihm noch ein Bild von dir schicken soll in dieser Gestalt. Er findet dich selbst als Pferd schön und hat noch kein Foto", wechselte Marion plötzlich das Thema. Ich war froh, mich endlich aus dem dunklen Unterholz zu befreien und betrat erleichtert den Waldweg.

„Marco? Schreibst du mit ihm?", erkundigte ich mich verwundert. Damit hatte ich nicht gerechnet. „Er hat sich an mich gewendet, nachdem du beschlossen hast ihn zu ignorieren", erklärte sie trocken. „Oh nein. Nein.", lenkte ich sofort ein, „Das wird jetzt nicht unser Gesprächsthema. Marco war eine Ferienaffäre und dabei bleibt es" Die Blonde seufzte. „Du lügst mich an" „Nein", murmelte ich kleinlaut. „Dein Freund hat mir geschrieben, was du ihm geschickt hast. Ich weiß davon" Ich sagte nichts mehr. Ich hatte Marco gebeten, er solle mich vergessen und sich eine neue Freundin suchen. Ich konnte ihm nichts bieten, ich konnte noch nicht einmal in seiner Nähe sein. Es hatte sich nichts an allem geändert. Wir hatten noch Kontakt gehalten, doch in den letzten Wochen hatte ich intensiver über alles nachgedacht und beschlossen es ihm zu sagen. Ich hatte mit keinen einzigem Wort erwähnt, dass ich Schluss machte und er auch nicht. Es war nur eine Aufforderung gewesen, dass er mich loslassen soll und sich eine neue Freundin suchen soll. Was konnte ich ihm denn bieten, ich hielt noch nicht einmal seine Nähe aus. Doch er kämpfte noch um mich und weigerte sich gegen alle gut gemeinten Ratschläge meinerseits. In Skype hatte er mich mehrmals auf die Probe gestellt. Ich solle ihm ins Gesicht sagen, dass ich ihn nicht liebe. Ich konnte es nicht, denn meine Gefühle waren unverändert ihm gegenüber. Er wusste das und deswegen behielt er weiterhin den Glauben daran. Auch wenn ich sah, dass es ihm mit jeder Woche schlechter damit ging. Er hatte versprochen noch im April rüberzukommen, ich hatte Angst davor. Ich wollte ihn nicht sehen, ich konnte es nicht.

Als mein Bauch wieder unruhig zu werden schien, blies ich den Gedanken schnell zur Seite. Ich durfte noch nicht einmal an ihn denken! „Grausame Welt", nuschelte ich. „Also habe ich doch Recht", beharrte Marion auf ihrer Aussage. „Hmm...", machte ich nur zustimmend. „Na, komm. Du siehst schon wieder niedergeschlagen aus...", erklärte sie nachdenklich und schwang sich ohne zu fragen auf meinen Rücken. „Meine Schuld war es diesmal aber nicht!", ärgerlich warf ich einen Blick nach hinten. „Sorry", sie grinste plötzlich und gab mir dann vorsichtig die Galopphilfen. Innerlich seufzte ich auf, als ich endlich meine angestaute Frustration in Kraft umwandeln konnte. Obwohl ich es nicht so gerne hatte, wenn sie mich wie ein Pferd behandelte, so hatte sie es in diesem Moment doch richtig gemacht. Sie war glücklich und das übertrag sich ziemlich schnell auf mich. Ich spürte so deutlich ihre Energieströme, die das Gefühl mit sich führten, wie sie in mich flossen und sich mit meinen vermischten. Innerlich dankte ich Marion dafür. Es half mir zu vergessen und befreite mich von innen heraus. Ich schaltete ab.

Am nächsten Morgen wachte ich erfrischt und munter auf, zog mich an und kochte Kaffee. Meine Freundin lag tief schlafend im Pausenraum, ich wollte sie nicht wecken, sie sah so friedlich aus, wenn sie schlief. Völlig entspannt. Ich ließ sie allein und ging nach draußen, sattelte Nevado und trottete mit ihm auf den Hof. Normalerweise ritt ich ihn selten, sein junger Rücken war sehr empfindlich. Als ich ihn anfangs nur leicht geritten war, hatte er keine Probleme gehabt, doch sobald ich das Training intensivierte, begann er über Rückenschmerzen zu klagen. Es war keine bestimmte Krankheit, nur war ein Pferd anatomisch eigentlich nicht für ein Reiter bestimmt und bei Nevado merkte man es eben. Es störte mich nicht weiter, da konnte ich unsere Trainingseinheiten mehr auf die Bodenarbeit beschränken. Der Schimmel konnte bereits kontrolliert Steigen - etwas, was bei Vito bis heute nicht korrekt beherrschte. Er musste auch nicht perfekt sein. Ich war froh, dass er inzwischen wenigstens beim Trickreiten ordentlich laufen konnte.

Jedenfalls genossen wir jetzt gemeinsam den neuen Morgen, der angebrochen war. Wie immer fühlte ich mich wie neugeboren nach der Vollmondnacht und voller Stärke. Der Himmel glänzte in schwach rosaroten Streifen, Morgentau ließ die weiten Ackerflächen glitzern. Ruhe erfüllte mich, sogar der gesprächige Hengst unter mir war still, er war noch zu müde um richtig wach zu sein. Im Schritt am langen Zügel suchte sich das junge Tier sicher seinen Weg. Seine sanft schaukelnden Bewegungen ließen mich wohl fühlen, geborgen. Heute würde der Park öffnen, ich sah einige Autos bereits auf dem Parkplatz und vereinzelt Besucher auf dem Weg zum Parkeingang. Ich wusste, dass solche Momente voller Stille selten wurden ab jetzt. Die Sommersaison war hart, freie Tage wurden selten und zur Ruhe kommen konnte man nur noch Nachts.

Ich schloss die Augen, in diesem Moment galoppierte mein Herz über den Weg der vergangenen Nacht, wollte nicht sehen, was die Zukunft brachte. Es würde anstrengend werden, ich ahnte es. Nevado fand seinen Weg selbstständig. Oft genug waren wir hier lang gelaufen. Und trotz allem fühlte es sich falsch an, dass unter mir nicht die pechschwarzen Mähne im Takt der Schritte wippte, sondern das schneeweiße Haar seines Ersatzes. War es nicht falsch, dass ich den Jüngeren nur als Ersatz sah? Doch er würde nie etwas anderes sein. Von Melancholie geplagt strich ich sanft über den Widerrist. Die morgendliche Kälte hatte meine Finger klamm gemacht, doch durch die Körperwärme des Tieres tauten sie langsam wieder auf und so kraulte ich ihn weiter. Ich wollte nicht aus meiner eigenen, kleinen Welt entfliehn. Genieße den Moment, hieß es. Doch je mehr man das tat, desto mehr tat der Übergang in die Realität weh. Und diese Realität kam erstaunlich schneller näher...

Moondancer - PferdeträumerWhere stories live. Discover now