18. Traumreise

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Einen neugierigen Blick um die Ecke werfend, konnte ich nur noch Ludos hohe Gestalt ausmachen, die aus der Stallgasse rauschte. Mehr konnte ich auf die Schnelle nicht erkennen, doch Ludo so zu sehen war ungewöhnlich. Normalerweise war er die Ruhe selbst. Ich ließ also mein Pferd und Marion allein und folgte meinem Chef. An seiner Körperhaltung und den hastigen, eiligen Schritten konnte ich schnell sehen, dass er ziemlich wütend war. Er lief im Kreis, hatte die Hände hinter dem Rücken gefaltet und schien regelrecht aus den Ohren zu qualmen.

„Was ist los?", fragte Charles verwundert, der eben mit Sentido am Strick aus der Waschbox auftauchte und das ungewöhnliche Verhalten des Mannes ebenfalls mitbekommen hatte. Ludo hielt inne, lehnte sich Haare raufend an die Stallwand. „Warum kann man mir nicht früher mitteilen, dass die spanische Feria vorgezogen werden soll und wir eine Nachtshow machen müssen? Das erfahre ich JETZT! Drei Wochen vor dem Termin! Meine Personalplanung ist damit vollkommen im Eimer! Zu dem Zeitpunkt kommt der Tierarzt zum impfen! Ich kann unmöglich alle notwendigen Pferde belasten!", regte er sich auf und stieß sich wieder von dem Mauerwerk ab, um weiter wutschnaubend im Kreis zu laufen. „Außerdem fehlen an dem Wochenende Steve, Damien und ich sollte auch weg, wegen den ersten Kaltenbergplänen!", fuhr er fort und seufzte vollkommen genervt auf. „Außerdem", er drehte sich ruckartig zu mir um und kam mit großen Schritten näher, sodass ich mich instinktiv etwas wegduckte. Seine Wut war für mich deutlich spürbar und nicht angenehm, auch wenn ich wusste, dass sie nicht mir galt. „An dem Wochenende ist Vollmond" Er sah zu mir herunter und völlig entgeistert starrte ich zurück. Nervös knetete ich meine Finger und wich dann etwas nach hinten aus. „Das heißt, ich kann nicht mitmachen", sagte ich leise. Er nickte und wandte sich wieder ab. Mein Herz raste. Ich wusste nicht genau, woran es lag. Vielleicht war es seine Aura, die mich so verschreckt hatte. Oder die Tatsache, dass er mein Geheimnis wusste. Wobei mir Letzteres eigentlich bewusst war.

Ich flüchtete wieder in die Stallgasse, Ludo gefiel mir nicht, wenn er so aufgebracht war, aber ich konnte es nachvollziehen. Immerhin war er extra auf den Hof gegangen, um sich abzuregen und hatte es nicht bei den Tieren gemacht. Mein Weg führte mich zu Nevado. Der Schimmel hörte mich kommen und streckte mir grüßend die Nase entgegen. Ich lächelte und genoss seine friedliche Ausstrahlung. Zwischen all den verschiedenen Eindrücken, die am Tag auf mich einprasselten, war es eine willkommende Abwechslung. Seine verspielte Art und Weise, die kindliche Fröhlichkeit. All die Dinge, die irgendwie verloren gegangen zu sein schienen. „Weißt du, was ich gerne machen würde?", fragte ich den Weißen irgendwann. Er schüttelte wild den Kopf, sodass die Zöpfe, zu denen seine lange Mähne gebändigt war, nur so umher peitschten. „Aufsitzen und davon galoppieren. Ganz weit weg. Immer der Nase nach. Bis wir ans Meer ankommen. Und wenn wir dort sind, springen wir in die Wellen, tauchen unter, sodass wir schwerelos durch das Wasser schweben können. Und dann tauchen wir wieder auf, vollkommen durchnässt, aber es ist warm. Denn die Sonne scheint auf uns nieder. Und dann liegen wir so lange in den Dünen bis wir wieder trocken sind. Und wenn wir dann noch nicht genug haben, laufen wir immer am Strand entlang. In den Sonnenuntergang und immer weiter. Bis wir von der Dunkelheit verschluckt werden" Mit geschlossenen Augen erlaubte ich mir einen Moment zu träumen. „So viel Ausdauer habe ich doch gar nicht!", lachte Nevado und katapultierte mich damit wieder in die Wirklichkeit zurück.

Für einen Moment spürte ich einen Stich der tiefsten Traurigkeit in mir. Vito hätte mich ernst angesehen und dann auf seinen Rücken gedeutet. Vermutlich hätte so etwas wie „Worauf wartest du noch?" oder „Lass uns doch einfach gehen" geantwortet. Aber diesen Vito gab es nicht mehr. Und wenn doch, dann war er so weit weg, dass er für mich unerreichbar war. „Vielleicht", antwortete ich schließlich meinem zweiten Pferd. Nur meinem zweiten Pferd. Vito würde immer meine erste Wahl bleiben. Momentan noch. Ich wusste nicht, ob ich das in mehreren Wochen immer noch sagen würde. „Ich muss wieder los", verabschiedete mich dann endlich von dem Hengst, immer noch tief nachdenklich.

Die dritte und somit letzte Show übernahm ich als Isadora. Das künstliche Lächeln fiel mir von Tag zu Tag weniger schwer und teilweise konnte ich sogar alles um mich herum vergessen. Mein Pferd war Sorgho, ein Apfelschimmel, der unglaublich brav und zuverlässig war. Ein Anfängerpferd, doch damit genau das, was ich brauchte. Mit ihm konnte ich mich darauf konzentrieren, an meinen Schauspielkünsten zu arbeiten. Das Publikum mochte mich, das wusste ich bereits. Doch wir blonden Frauen kamen allgemein gut an, egal wie gut oder schlecht wir ritten. Und schlecht war ich inzwischen nun wirklich nicht. Schon gar nicht in den Trickreitübungen. Meine Probleme lagen hauptsächlich beim Tjosten und Schwertkampf, der einfach nicht so ganz wollte. Für das Tjosten fehlten mir noch ein wenig Armmuskeln und die Choreographie des Kampfes wollte noch nicht so ganz in meinen Kopf hinein, auch wenn ich mit Improvisieren und Parieren sehr weit kam.

Ich blieb an dem Abend noch lange im Stall. Obwohl meine Arbeitszeit längst vorbei war, alle Pferde versorgt waren und kaum noch jemand da war, drückte ich mich vor Vitos Box herum. Teilnahmelos stand er an der Wand der Tür gegenüber und döste ein wenig vor sich hin. Sein goldenes Fell glänzte matt im schwachen Licht der Stalllampe und die offene Mähne fiel wie flüssiges Pech über seinen Hals. Marion hatte ganze Arbeit mit ihm geleistet - oder wer auch immer ihn geputzt hatte. Ich war es jedenfalls nicht gewesen. Die Sonne war längst unter gegangen. Dunkelheit hatte sich über uns gelegt wie eine schwere Decke. „Kommst du mit?", fragte ich vorsichtig nach, die Arme auf seiner Tür verschränkt. Wohin war mir egal. Einfach irgendwohin. Sein Ohr zuckte in meine Richtung. Hoffnungsvoll lehnte ich mich etwas nach vorne, doch dann drehte er den Kopf von mir weg. Starrte die weiße Wand des Stalles an und blinzelte fast in Zeitlupe. Für einen Moment schien er mit sich zu kämpfen. Aber er blieb mir abgewandt.

Kälte breitete sich in mir aus, ich fröstelte und verließ traurig die Arena, damit ich zurück zu meiner Wohnung konnte.

In der Nacht hatte ich wieder den merkwürdigen Albtraum mir Freddie und den Menschen, die mich bedrängten. Inzwischen mit der Situation vertraut hoffte ich, dass ich einfach bald aufwachen würde, doch diesmal änderte sich die Szene, ohne dass ich erwachte.

Ich sah mich selbst unter einem Baum liegen, in einem Meer aus weißen Blüten. Die Arme hatte ich weit von mir gestreckt, die Beine dagegen eher etwas angewinkelt. Meine Augen waren geschlossen und mein Gesicht vollkommen entspannt. Ich wusste nicht, ob mein Abbild schlief oder tot war, doch der Körper bewegte sich nicht. Plötzlich trat jemand neben mich, sank auf die Knie und umfasste mein Gesicht sanft mit den Händen. Ich konnte nicht erkennen, wer es war, die Gestalt war in eine graue Kutte gehüllt, deren Kapuze tief in das Antlitz fiel.

„Falle in einen Schlaf, tiefer als das Meer. Werfe die Angst von dir, auch wenn es dir schwer fällt", sagte die Gestalt ernst. Es war ein Mann, doch die Stimme erkannte ich nicht. Seine Hand streichelt über meine Wange, streicht einige braune Haarsträhnen zurück. Mir fiel erst jetzt auf, dass ich mich mit meiner alten Haarfarbe sah, obwohl ich jetzt doch eigentlich blond war. Doch das war nicht alles, erst jetzt fiel mir auf, wie hager und ausgemergelt meine Gestalt war. Bleiche Haut spannte sich über meine Knochen. Einige blaue Flecken zierten meine Arme, wahrscheinlich vom Stuntreiten.

„Breite deine Arme aus und steige in den Himmel auf", fuhr die Gestalt mit ihrer sanften Stimme fort. Gleichzeitig bewegte sie ihre Hände beschwörend über meinen Körper und ich begann wirklich zu schweben. Fasziniert sehe ich von außen zu. Als ich einige Meter über den Boden schwebte, schlug ich endlich die Augen auf. Braun, komplett ohne blauen Glanz und Magie. Die Magie ging von der anderen Person aus.

„Ich bin zur Freiheit bereit, verliere den Zeitenlauf. Die Welt unter mir ist nicht mehr wie zuvor. Jetzt fliehe ich vor ihr zum Firmament empor", hörte ich meine Stimme. Sie klingt anders als ich sie kenne. Dunkler, tiefer. War ich das? Oder war das ein Teil von mir? Außerdem kam mir die Wortwahl bekannt vor, aber ich wusste nicht woher. Oder sollte ich jemanden anderes darstellen?

War es ein Albtraum oder eine Nachricht meines Unterbewusstseins? Ich wusste es nicht und wollte es nicht erfahren. Nur ein Traum, es ist nur ein Traum. Warum konnte ich so klar denken, obwohl ich schlief?

Verwirrende Fragen, zusammenhangslos und schnell, glitten durch meinen Kopf. Sie wirbelten immer schneller umher, vermischten sich mit den Fragen, die ich mir täglich stellte. Allen voran das Problem mit Vito.

Vielleicht würde es sich irgendwann lösen.

Vielleicht.




Moondancer - PferdeträumerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt