Our Scars (German Version)

Circles

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Circles (Titel by Post Malone)

Am nächsten Morgen fuhr Jay direkt wieder ins Krankenhaus, um zu sehen ob es bezüglich des Schießereiopfers irgendwelche Fortschritte gab. Sobald der Junge stabil war würde er für die Vorbereitung der Anklage gerade gegen seinen Pflegevater seine Aussage brauchen.

Als er dort ankam sah er seinen Bruder auf der Intensivstation, vor dem Raum, in dem Tony gestern untergebracht worden war. Eine sehr erschöpft aussehende Rianne Torres Delgado war bei ihm, immer noch in den selben Klamotten vom Vortag.
Sie sprachen sehr leise miteinander und als sie Jay erblickte brach sie das Gespräch ab. Kurz, aber nichtsdestotrotz herzlich, drückte sie Will an sich und ging ohne auch nur ein einziges Wort an Jay zu richten. Er bekam noch nicht einmal ein frostiges Nicken.

Wenn er ehrlich war fühlte er sich ein bisschen schlecht. Offensichtlich hatte er sie mit dem, was er gestern gesagt hatte, verletzt. Jay wusste, dass es nicht ihr persönlicher Fehler war, aber in den letzten Monaten hatte es so viele Dinge im Bezug auf das Sozialsystem und politische Entscheidungen in Chicago gegeben (besonders was die Polizeiarbeit anging), die ihm verhasst gewesen waren. Er hatte so viel Kummer und Leid gesehen. Da war es einfach leichter jemanden persönlich dafür verantwortlich zu machen.
Zudem hatte er festgestellt, dass die vorherrschende Emotion, die ihn derzeit antrieb und auf Zack hielt, Wut war. Er war sich sicher, dass wenn er etwas Anderes zulassen würde, wie zum Beispiel Mitgefühl, er Gefahr liefe daran zu zerbrechen. Wut sorgte dafür, dass sein Feuer weiter loderte und alles andere betäubte.
"Was ist mit diesen ständigen Umarmungen zwischen euch? Ich dachte, sie ist mit Nate Ruzek zusammen," spöttelte Jay gegenüber Will, nachdem er erneut Zeuge einer Abschiedsszene zwischen seinem Bruder und Rianne geworden war. Es verwirrte ihn ein bisschen. Warum war ihm zuvor nie aufgefallen, dass die beiden sich irgendwie nahe zu stehen schienen?

***

"Entschuldigen Sie bitte Detective, wir sind einfach nur große Fans von diesen netten Dingen, die Menschen manchmal machen. Vielleicht solltest du dir auch jemanden suchen, der dich regelmäßig in den Arm nimmt. Ich hab gehört es wäre gut gegen schlechte Laune. Und nur zu deiner Information: Sie ist nicht mit Nate Ruzek zusammen. Mein letzter Stand ist, dass die beiden nur beste Freunde sind, die zusammen wohnen und arbeiten und sich schon ziemlich lange kennen. Aber spannend, dass dich das scheinbar interessiert. Netter Versuch übrigens diese Frage unauffällig einzubauen, aber ich habe dich ertappt," stichelte Will, der die Ernsthaftigkeit seines kleinen Bruders manchmal ein wenig satt hatte. Jays heute gewählter Schutzpanzer war definitiv Arroganz und sie triefte förmlich aus allen seinen Poren.

Er war noch ernster und verschlossener geworden seit ihr Vater gestorben war. Will vermutete, dass sein Bruder immer noch viele Schuldgefühle mit sich herumschleppte, da er sich nicht richtig hatte verabschieden können. Stattdessen hatte es einen schrecklichen letzten Streit zwischen den beiden gegeben. Aber darüber sprachen sie nie. Jedes Mal wenn Will es versuchte, wies Jay ihn schroff ab. Natürlich trug dies nicht gerade dazu bei, dass Will sich weniger Sorgen um die psychische Gesundheit seines Bruders machte.
"Sehr, sehr witzig," Jay verdrehte die Augen.

"Aber ernsthaft, wieso kennst du sie eigentlich? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du mit allen mit denen du nur ab und zu arbeitest, so ein freundschaftliche Verhältnis pflegst. Obwohl du natürlich ein notorischer Schmeichler bist!"

"Wenn du es unbedingt wissen musst: Ich habe sie mal behandelt. Vor zweieinhalb Jahren."
"Und, kannst du mir sagen warum oder unterliegt das der ärztlichen Schweigepflicht?"
Will wunderte sich woher Jays plötzliche Neugierde kam, aber vielleicht würden ein wenig mehr Hintergrundinfos zu Rianne seinen Bruder ja davon abhalten sie immer so feindselig zu behandeln:
"Nein, das glaube ich nicht, weil es damals auch in allen Nachrichten war. Und ich bin mir sicher, dass du alles über sie in eurer Datenbank finden kannst..."
Will wusste, dass Jay dafür eine Fallakte hätte anlegen müssen, wenn er seine Beziehungen zum Nachrichtendienst spielen ließ, wäre dies sicherlich kein Problem. Aber es machte den Anschein, als wolle Jay lieber persönliche Infos erhalten, denn er spitzte bereits die Ohren. So wie Will ihn kannte, hatte er sich in seinem ständig arbeitenden Kopf sicher bereits ein absurdes Bild zusammengeschustert. So wie Jay sich benahm, sah er scheinbar schon wie sich Rianne zu einer Massenmörderin, heimlichen Drogenabhängigen, Betrügerin oder sonst was entwickelte.
Fokussierte smaragdgrüne Augen forderten Will dazu auf ihre Geschichte zu erzählen:
"Sie wurde zusammen mit zehn anderen Opfern eingeliefert. Ein riesiger Massenunfall auf der Michigan Avenue, während eines Schneesturms, vielleicht erinnerst du dich? Februar 2017! Sie und ihr Mann waren zusammen im Auto und wurden von einem LKW erfasst, der bei Rot über die Ampel fuhr. Vier andere Autos stießen mit ihnen zusammen, nur fünf Menschen haben den Unfall überlebt. Alle anderen sind vor Ort gestorben oder im Krankenhaus. Ihr Mann? Der arme Kerl wurde für Hirntod erklärt, kurz nachdem der Krankenwagen ihn hierher gebracht hatte. Ich glaube sie hatten erst vier Monate vorher geheiratet. Ich werd dir jetzt nicht ihre ganze Lebensgeschichte erzählen. Wenn du mehr wissen willst, frag sie selber! Vielleicht wäre es sogar gut sich mal normal zu unterhalten, anstatt immer etwas aneinander auszusetzen zu haben.
Ich kann jedenfalls nur sagen, dass sie schwerste Verletzungen hatte und ziemlich lange im Krankenhaus bleiben musste. Also hab ich sie oft gesehen, wir haben viel geredet. Ich mochte sie und tue das auch immer noch. Jetzt sehen wir uns hier von Zeit zu Zeit noch, wenn der Sozialdienst angerufen wird. Es hat mich echt beeindruckt, wie sie sich nach dieser Tragödie wieder zusammengerauft hat.

Rianne ist eine smarte, starke Frau, und wenn es um Sturheit geht, kann sie es dreimal mit dir aufnehmen. Sie war die ganze Nacht hier bei dem Jungen und hat seine Hand gehalten. Ich glaubte nicht, dass sie dafür bezahlt wird! Du kannst ihn übrigens befragen, er ist vor einer Stunde aufgewacht!"

Will schlug seinem Bruder mit einem Klemmbrett voller Datenblätter gegen die Schulter und ließ ihn stehen.

***

Jay gebot jeglichen Gefühlen, die er aufgrund der Dinge, die er im Krankenhaus erfahren hatte, vielleicht hätte haben können, Einhalt. Fast wünschte er sich, er hätte seinen Bruder nichts gefragt. Es wäre so viel einfacher gewesen Rianne nur aus einer Perspektive zu betrachten und nicht aus so vielen auf einmal.
Zurück auf dem Revier stieß Adam im Umkleideraum zu ihm:
"Geht's dem Jungen gut?"
"Ja, es ist fast ein Wunder, aber er macht sich. Ich konnte ihn heute morgen schon befragen. Jetzt muss ich's nur noch schriftlich festhalten."
Jay schloss die Tasche, in der er immer Wechselkleidung mitbrachte, in seinen Schrank ein und wollte direkt weiter ins Büro gehen, um die anderen auf den neusten Stand zu bringen, aber Adam stellte sich ihm plötzlich in den Weg. Er benahm sich ein wenig merkwürdig. So als ob ihm das was er zu sagen hatte unangenehm wäre:
"Das sind gute Neuigkeiten! Hey Mann, hör zu ... ich misch mich normalerweise nicht gern ein, aber ich hab heute einen Anruf von meinem Cousin erhalten. Du weißt schon, Nate?"
Jay war gespannt wo dieses Gespräch hinführen würde. Er spähte hinter seiner Schranktür hervor: "Hm, ich kenne ihn, hab ihn schon mal gesehen... Was ist?"
"Er war etwas angepisst, weil du Rianne die letzten Male immer so runtergemacht hast. Er meint, das sei nicht gerechtfertigt? Ich weiß nicht was euer Problem ist, aber sie ist ein nettes Mädchen, also vielleicht solltest du dich ein bisschen im Zaum halten."
"Du bist nicht der Erste, der mir das sagt! Hat sie sich etwa über mich beschwert?" Jay war erstaunt.
Er hätte Rianne nicht für jemanden gehalten, der direkt zu 'Papi' lief nur weil jemand sie ein wenig drangsalierte.
"Komm schon Mann, entspann dich! So ist es nicht. Ich hab den Eindruck er ist nur etwas besorgt um sie. Sie war wohl echt mitgenommen wegen dem was gestern passiert ist, und da hat es nicht gerade geholfen, dass du sie auch noch beschuldigt hast. Vielleicht hattet ihr einfach nur einen schlechten Start und solltet euch besser kennenlernen. Sie und mein Cousin geben dieses Wochenende zufällig ein Konzert im Molly's. Warum kommst du nicht auch und hörst dir das an?"
Jay antwortete Adam nicht, sondern warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu und ließ ihn stehen. War es zu viel verlangt, dass ihn alle mal in Ruhe ließen?