Looking Too Closely

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Looking Too Closely (Titel by Fink) 

"Du kannst mich loslassen Sara! Dir passiert nichts. Lass mich einfach los!"

"Aber ich will hier nicht sein!"

"Darüber haben wir ja geredet! Es war deine Entscheidung und wir sind hergekommen, damit dir geholfen wird."

"Ich hab meine Meinung geändert. Ich will einfach nur zu meiner Mum!"

Der unermessliche Ärger und die unendliche Verzweiflung, die in der Stimme des Mädchens mitschwangen, dröhnten schmerzhaft in Riannes Ohren.

Weil sie diese Worte laut neben ihr herausbrüllte, trafen Spucketropfen Riannes Gesicht, was ihre Geduld nur weiter auf die Probe stellte.

"Ich weiß das Süße, aber niemand weiß genau wo deine Mum ist!"

"Sie hat gesagt, dass sie für mich zurückkommt! Sie hat versprochen, dass wir an Weihnachten wieder zusammen sein werden!"

Riannes Herz zerbrach in seine Einzelteile und das nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen. Es tat mehr weh als die tatsächlichen Verletzungen an ihrem Körper, oder der Schmerz an ihrer Kopfhaut, wo ihre Haare von verzweifelten und kleinen, aber unmenschlich starken Händen, zurückgezogen wurden, was es ihr unmöglich machte sich so zu bewegen wie sie es wollte.

'Versuch nicht den Kopf zu verlieren, bleib ruhig' versuchte sie sich selber einzubläuen, egal wie außer Atem sie nach dem Kampf war, bei dem es für ihre 16jährige Gegnerin scheinbar um Leben und Tod zu gehen schien.

Rianne versuchte nicht daran zu denken, dass ihr das Haar wahrscheinlich mit bloßen Händen von der Kopfhaut abgezogen wurde, oder an ihren pochenden Wangenknochen, der allein in den vergangen zwei Minuten schon auf das Doppelte seiner Größe angeschwollen zu sein schien, oder dass sie von einem Mädchen, das sie bloß hatte beschützen wollen, gegen eine Wand gedrückt wurde.

Rianne hatte nach dem Studium in vielen verschiedenen Bereichen des sozialen Sektors gearbeitet, mit verschiedenen Gruppen von Menschen in Not.

Angefangen im Altenheim, wo sie den Bewohnern bei administrativen Aufgaben und Freizeitaktivitäten geholfen hatte, bis hin zu einer Anstellung in einer Entzugsklinik. Jedoch hatte sie ziemlich schnell festgestellt, dass die Arbeit mit Süchtigen nichts für sie war. Schließlich war sie in einer Einrichtung für schwer erziehbare Kinder zwischen 6 und 14 Jahren gelandet, die keinen anderen Platz zum Leben hatten. Rianne hatte immer gerne alles für diese Kinder gegeben, sichergestellt, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten, das sich zumindest für den Moment wie ein richtiges Zuhause anfühlte. Als sie dann schwanger geworden war, hatte sie nicht mehr mit diesen schwierigen Kindern arbeiten dürfen, da gewaltbereites und provokantes Verhalten an der Tagesordnung gewesen waren. Also war Rianne in die Kinder- und Familienhilfe versetzt, genau genommen zur Schreibtischarbeit verdonnert worden. So war es gewesen bis sie nach ihrem Unfall wieder angefangen hatte zu arbeiten. Danach hatte sie darauf bestanden auch vor Ort und in den Familien Termine zu machen, so wie sie es bis jetzt noch tat. Sie glaubte daran, dass dieser Job nur auf zwei Arten gemacht werden konnte: 1) Man war eine Art Anwältin für die Menschen, die einen brauchten, versuchte für sie einen Unterschied zu machen und engagierte sich des Öfteren vielleicht etwas mehr als nötig.2) Man hielt sich an die Grundaufgaben, machte Dienst nach Vorschrift und hielte sich an eine Arbeitszeit von 9 bis 17 Uhr. Der heutige Tag hatte sich als einer derjenigen herausgestellt, an denen Rianne sich wünschte, dass sie für die 2. Variante gemacht gewesen wäre, dann hätte es nicht so eine persönliche Komponente bekommen. Sie kannte Sara bereits seit ihrer Zeit in der Gruppenunterkunft, als sie erst 12 Jahre alt gewesen war. Seither hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt. Ihre Mutter war mal mehr oder weniger involviert, sprang meistens immer dann ab, wenn es schwierig wurde oder ein neuer Kerl in ihr Leben trat. Sara hatte bereits in diversen Pflegefamilien und Wohneinrichtungen gewohnt. Aufgrund früherer Kindheitserfahrungen, einer Bindungsstörung, sowie einem inkonstanten sozialen Netzwerk, war sie kein Teenager mit dem jeder gut umgehen konnte. Über die Jahre hatte sie immer wieder mit den typischen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt: Sie hing mit den falschen Leuten herum, experimentierte mit Drogen und Alkohol, entwickelte eine Essstörungen, die immer mal wieder knapp daran war klinisches Potenzial zu haben, und tendierte manchmal, wenn der Druck zu groß wurde, zu selbstverletzendem Verhalten, in dem sie sich die Arme und Beine aufritzte. Die ganze Zeit über war sie mit Rianne in Kontakt geblieben, meldete sich unregelmäßig, um mit ihr zu quatschen oder sich wieder auf den Pfad der Tugend zurückbringen zu lassen. Trotz allem kam sie immer wieder zurück und Rianne hatte eine kleine Schwäche für das Mädchen entwickelt. Die letzten sechs Monate war Sara in ihrer aktuellen Pflegefamilie eigentlich in einer stabilen Wohnsituation gewesen. Sie hatten strenge Regeln, aber die junge Frau brauchte genau diese Struktur. Sie hatte etwas zugenommen und auch ihre schulischen Leistungen verbessert, hauptsächlich ging sie überhaupt mal regelmäßig hin. Aber seit ihre leibliche Mutter vor ein paar Wochen wieder mit ihr Kontakt aufgenommen hatte, nur um kurz darauf wieder von der Bildfläche zu verschwinden, war Sara erneut aus dem Gleichgewicht geraten. Manchmal wurde Rianne so wütend auf diese Eltern, denen scheinbar nicht klar war wie sehr ihre Entscheidungen ihre Kinder beeinflussten, und andere dann hinter sich aufräumen ließen.

Our Scars (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt