V I E R

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Die tiefe, raue Stimme erschreckte mich so sehr, dass ich einen zugegebenermaßen etwas unmännlichen Schrei losließ und gegen den Türrahmen in meinem Rücken kippte. Bei dem Versuch mich irgendwo festhalten zu können, um mich vor dem bevorstehenden Sturz zu retten, ließ ich dummerweise das Handtuch los, das sich natürlich gleich lösen und zu Boden fallen musste.
Doch der fremde Mann brachte mich so aus dem Konzept, dass ich das im ersten Moment nicht einmal realisierte.

„Zum Teufel", fluchte ich außer Atem und versuchte mein erschrockenes Herz wieder etwas zu beruhigen. „Schleich dich doch nicht so an", keifte ich vorwurfsvoll, was mein Gegenüber schief grinsen ließ.

„Du hast da was verloren." Er deutete mit einem Nicken auf das Handtuch, das wenigstens meine nackten Füße noch vor seinen Augen verdeckte, und machte mir damit bewusst, dass ich gerade tatsächlich nackt vor ihm stand.
Nackt vor einem fremden Mann. Und das auch noch nüchtern.

Der einzige Mann, der mich bis jetzt wirklich nackt gesehen hatte, war Paul, aber das auch nur im Suff und erinnern konnte er sich sicherlich auch nicht mehr daran.

Mit einem geflüsterten „Oh shit" verdeckte ich sofort meine Kronjuwelen und angelte nach dem Handtuch, um es mir gleich wieder fest um die Hüfte zu binden, während meine Wangen spürbar heiß wurden. Verdammt war mir das unangenehm.

„Brauchst du eine frische?", wiederholte er seine Frage von eben und deutete auf meine Boxershorts, die ebenfalls zu Boden gefallen war und dort noch immer lag.

„Umm...", begann ich zu stammeln. Seit wann stammelte ich eigentlich? Sonst war ich immer die Selbstbewusstheit in Person, hatte jederzeit einen klugen Spruch auf den Lippen, aber gerade wuchs mir die Situation echt einfach nur über den Kopf.
Ich hatte, wenn überhaupt, die Wohnungsbesitzerin erwartet und nicht ihren Freund. Was machte der eigentlich hier? Vor allem ohne ihr?

Oh shit! Sie hat einen Freund!

Ich spürte regelrecht, wie meine Augen schlagartig groß wurden und ich einen vorsichtigen Schritt von dem Kerl weg machte. Er war doch nicht nur hier, um mir die Fresse zu polieren, oder?! Ich wusste ja nichtmal, dass sie einen Freund hatte. Er hatte also absolut kein Recht dazu.

Hingegen meiner Panik, sah er mir aber nur abwartend und mit hochgezogener Augenbraue entgegen. Er wirkte nicht sehr wütend. Bei genauerem betrachten, sah er aber auch nicht so aus, als könnte er allzu kräftig zuschlagen. Vielleicht war heute ja doch mein Glückstag.

Er war gut einen Kopf kleiner als ich und war sehr schmal und drahtig gebaut. Starke Muskeln waren trotz des figurbetonten Hemdes, das er trug, nicht sichtbar und seine kleinen, zugegebenermaßen sehr zart wirkenden Hände konnten mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht einmal eine Fliege erschlagen. Geschweige denn einen erwachsenen Mann, der regelmäßig ins Fitnessstudio ging.
Gegen mich hatte er also keine Chancen. Das war schonmal positiv.

„Ja, das wär ganz nice", antwortete ich schlussendlich und nickte langsam. „Die ist letzte Nacht mit sämtlichen Flüssigkeiten durchtränkt worden." Ich versuchte es witzig klingen zu lassen, aber irgendwie funktionierte das nicht wirklich, wodurch es sich einfach nur nach einem jämmerlichen Versuch lustig zu klingen anhörte. Dass auch mein Gegenüber keine Miene verzog und mir einfach nur entgegen sah, machte es nicht besser.
Das war mir dann so unangenehm, dass ich mich nur räuspern konnte.
Bevor ich es noch seltsamer zwischen uns machte, ging er zum Glück einfach an mir vorbei in Richtung Schlafzimmer und entschärfte damit die Situation.

Erst atmete ich erleichtert auf, bis ich realisierte, dass er gerade im Schlafzimmer verschwunden war und dort wahrscheinlich aus dem Kleiderschrank eine frische Boxershorts für mich holte. Wohnte er also hier? War das sein Schrank? Oder hatte seine Freundin, die ihn letzte Nacht betrogen hatte, ihm nur ein eigenes Fach in ihrem Schrank frei geräumt?
Ich atmete erneut tief durch, diesmal jedoch eher um mich wieder etwas zu beruhigen und folgte ihm dann.

„Die sollte dir passen." Er reichte mir eine schwarze Boxershorts, drückte gleichzeitig mit dem Ellenbogen die Schranktür wieder zu. „Soll ich deine Klamotten kurz mal in die Waschmaschine werfen? Ich habe Frühstück mitgebracht. Du kannst also etwas essen und bis dahin sollte auch deine Wäsche wieder so weit sein."

Bevor ich auch nur ansatzweise über seine Worte nachdenken konnte, knurrte mein Magen in einer so unangenehmen Lautstärke, dass es sicherlich noch die Nachbarn gehört hatten.
Damit konnte ich sein Angebot kaum noch abschlagen.
Außerdem wäre es wirklich nett von ihm, wenn er meine Klamotten durchwaschen könnte. Ich konnte mich noch wage daran erinnern, dass der Jeansstoff gestern Abend im Club schon hart geworden war, weil sämtliche Cocktails darauf verschüttet und dann getrocknet waren. Es würde mich tatsächlich nicht wundern, wenn sie von alleine stehen könnte.
Damit wollte ich ganz sicher nicht auf die Straße hinaus treten und welche Substanzen sich auf meinem Oberteil befanden, wollte ich gar nicht erst wissen.

„Ja, das wär ganz nice."

Er nickte, deutete mir damit an, dass er mich verstanden hatte und bückte sich dann ganz selbstverständlich nach meinen Klamotten, die verstreut am Fußboden lagen, und nahm mir sogar meine getragene Boxershorts ab.
„Im Schrank findest du sicherlich noch eine Jogginghose oder sowas, die dir passt." Und dann verließ er einfach das Schlafzimmer und zog sogar die Tür hinter sich zu.

Mein Gehirn brauchte einige Minuten, um zu realisieren, was hier gerade passiert war. Hatte dieser fremde Kerl gerade ohne zu zögern oder ohne auch nur das Gesicht zu verziehen meine getragene, vollgeschwitzte, klebrige Boxershorts in die Hand genommen? Einfach so?

Was ist er denn für ein Irrer?
Für kein Geld der Welt würde ich Pauls getragene Unterhosen anfassen. Und Paul war mein bester Freund.

Ich war ein Fremder!

Ok. Wo war ich hier nur gelandet?

Ich konnte nur den Kopf schütteln, schlüpfte dann in die Boxershorts, die zwar etwas eng saß, aber schon passte und versuchte dann mit der selben Selbstverständlichkeit, in der er meine Klamotten mitgenommen hatte, den Kleiderschrank zu öffnen. Ich war furchtbar neugierig, was mich erwarten würde und gleichzeitig fürchtete ich mich auch vor dem Inhalt, denn mittlerweile hatte ich kapiert, dass an diesem Morgen überhaupt nichts so kam, wie ich es erwartete.

Ein Hannes zum Verlieben ✓Where stories live. Discover now