S I E B E N U N D F Ü N F Z I G

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Mein Vater war auch den restlichen Abend über richtig bissig und hatte dadurch sogar zwei von Mums Gästen unfreundlich angefahren. Er hatte sich gleich danach sofort entschuldigt, aber man merkte deutlich, dass er unter Strom stand und ich konnte mir beim besten Willen nicht ausmalen, warum.

Manuel war längst gegangen. Er hatte sich nur aus der Ferne mit einem Winken verabschiedet, worüber ich echt froh war. Ein weiteres Gespräch mit ihm wollte ich echt vermeiden.

Der Kuss mit ihm lag nur gut zwei Stunden zurück und obwohl ich nüchtern war, konnte ich mich jetzt schon kaum mehr an Details erinnern.
Ich wusste nur, dass es sich nicht so angefühlt hatte wie mit Hannes und das löste verdammt große Sehnsucht nach meiner Maus aus. Gleichzeitig hatte ich auch ein schlechtes Gewissen, weil ich einen Anderen geküsst hatte. Ja, zwischen mir und Hannes war es jetzt komplett vorbei, aber das hieß noch lange nicht, dass ich am selben Tag gleich jemand anderes küssen sollte.

Mum war am Ende des Tages gut angetrunken und saß mit den letzen zwei Überbleibseln ihrer Feier um eine kleine Feuerstelle, während Dad und ich in angespannter Stille alles andere abbauten und verräumten. Es hatte mittlerweile etwas abgekühlt, sodass das Abbauen recht schnell vorbei ging und auf jeden Fall angenehmer war, als wenn wir es morgen bei sonnigen Temperaturen machen würden.

Gerade als wir die Girlande wieder abgenommen hatten und sie gemeinsam zusammenrollten, konnte mein Vater sich wohl nicht mehr länger zurückhalten.

„Ich verstehe dich nicht, Tim. Ich versuche es, aber es macht keinen Sinn."

„Was?", fragte ich irritiert und knotete das Band zu, damit die Girlande auch im Schuppen weiterhin in Form blieb und nicht völlig durcheinander kommen würde.

„Dieser Hannes. Er ist extra hierher gefahren, war völlig aufgelöst und du hast ihn einfach wieder weggeschickt. Ich weiß nicht, was da zwischen euch vorgefallen ist und ob es vielleicht legitim war, ihm nicht zu verzeihen, aber ich habe gesehen, wie sehr dir das wehgetan hat und dass du dich danach in dein Zimmer verkrochen hast, zeigt das noch deutlicher."

„Bist du deswegen so sauer auf mich?" Weil ich Hannes weggeschickt und mir damit wehgetan hatte?

„Nein", schnaubte er. „Warum hast du Manuel geküsst?"

„Er hat mich geküsst", antwortete ich als würde das irgendetwas besser machen.

„Du hast nicht so ausgesehen, als hättest du ein Problem damit gehabt."

„Worauf willst du hinaus, Papa?" Ich seufzte kraftlos und drehte mich um, um die Girlande in den Schuppen zu hängen.

Er folgte mir. „Ein gebrochenes Herz heilt nicht schneller, wenn man sich gleich auf eine neue Person stürzt."

„Ich habe mich nicht auf ihn gestürzt." Diesmal klang auch ich etwas angepisst. Warum fuhr er mich so an? Er könnte doch auch normal mit mir reden.

„Aber das gebrochene Herz leugnest du nicht?"

„Ja verdammt. Hannes hat mir wehgetan! Willst du das hören?!", brüllte ich ungeachtet dessen, dass Mama und ihre Gäste nicht allzu weit entfernt saßen. Zum Glück waren wir mittlerweile schon in unserem Schuppen angekommen.

Was wollte mein Vater eigentlich von mir? Warum musste er so in der Wunde bohren?!

„Er war da und wollte das zwischen euch wieder klären. Warum hast du ihn weggeschickt?", fragte er plötzlich mit sanfter Stimme nach und lehnte die Staffelei in seinen Händen gegen die Wand.

„Weil... weil..." Ja, warum? Warum hatte ich Hannes weggeschickt?
Weil ich Angst hatte, wieder verletzt zu werden. Aber war das legitim?

Dass die Angst berechtigt war, war mir klar. Aber hätte ich ihm vielleicht eine Chance geben sollen? Eine Chance, um zu zeigen, dass ich keine Angst zu haben brauchte?

„Weil ich Angst habe, dass er mir nochmal weh tut", antwortete ich leise und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme dazwischen etwas abbrach.

„Ach Tim", kam es daraufhin von meinem Vater, der mich gleich eng in seine Arme zog. Ich nahm die Umarmung dankbar entgegen, klammerte mich sofort an ihm fest und konnte meine Tränen nicht mehr länger zurückhalten.
Er sagte nichts mehr, strich mir nur mitfühlend über den Rücken und hielt mich so lange in seinen Armen, bis ich mich löste.

„Wusstest du, dass deine Mutter damals Minimum hundert Mal mit mir Schluss gemacht hat? Ich wusste irgendwann selber gar nicht mehr, ob wir jetzt zusammen sind oder nicht." Ein schiefes Lächeln trat auf seine Lippen, während er wohl an die Zeit zurückdachte.

„Hundert Mal?", fragte ich skeptisch nach.

„Ja, Minimum hundert Mal. Sie konnte sich damals nicht entscheiden, ob sie mich jetzt mag oder nicht, während ich ihr die ganze Zeit wie ein treudoofer Hund hinterher gelaufen bin." Er gluckste leise. „Ich war echt über beide Ohren in sie verliebt und nicht zu wissen, wie sie mir gegenüber empfindet, war für mich damals wirklich schlimm. Trotzdem habe ich sie jedesmal, wenn sie wieder zu mir kam, zurückgenommen. Jedes einzelne Mal. Und irgendwann ist sie mir dann geblieben, hat mich geheiratet und immer bedingungslos unterstützt."

„Und nicht zu vergessen, dass sie mir den besten Sohn geschenkt hat, den ich mir wünschen könnte." Seine Hände fanden meine Schultern und drückten sie sanft.

„Hannes hat dir wehgetan und das ist hat dein Vertrauen in ihn kaputt gemacht. Das kann ich nur zu gut verstehen. Aber ich habe auch gesehen, wie wichtig es diesem Jungen war, das mit dir wieder zu klären. Er ist extra hierher gefahren, nur um mit dir reden zu können."

„Hannes ist kein Junge", grätschte ich unsanft dazwischen. Ich wollte nicht, dass Dad ihn so nannte. Da musste ich nur an Manuel und diesen ungeschickten Kuss denken und damit wurde nur meine Sehnsucht nach Hannes wieder größer. „Er wird dieses Jahr dreißig."

Dad verzog daraufhin überrascht das Gesicht. „So alt sah er gar nicht aus."

„Ich weiß."

„Was ich dir damit sagen möchte, Tim", fuhr Papa wieder fort. „Er hat sich bemüht. Vielleicht zu spät, vielleicht nicht genügend, aber er hat sich bemüht und konnte vor lauter Tränen kaum richtig atmen. Ich weiß nicht, was zwischen euch passiert ist. Ich möchte dich auch zu nichts drängen. Ich will nur, dass du dir ernsthafte Gedanken machst, bevor du dich nach jemand anderen umschaust."

„Ich habe mich nicht umgeschaut", wisperte ich und senkte beschämt den Blick. „Er hat mich geküsst, aber ich hatte nur Hannes im Kopf", gab ich leise zu und drückte angestrengt die Augen zu. Selbst jetzt hatte ich Hannes noch direkt vor Augen und spürte sogar seine Lippen auf meinen.

„Wie konntest du damit umgehen, dass Mum so oft Schluss gemacht hat?"

Selbst ein einziges Mal hatte mich bei Hannes schon fast kaputt gemacht. Und das so sehr, dass ich vor einem zweiten Mal panische Angst hatte.

„Gar nicht, ehrlich gesagt. Ich habe einfach immer gehofft, dass sie sich schlussendlich doch für mich entscheidet."

Ein Hannes zum Verlieben ✓Onde histórias criam vida. Descubra agora