S E C H S U N D D R E I ß I G

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Irgendwann war Hannes in meinen Armen eingeschlafen. Selbst im Schlaf liefen ihm noch vereinzelte Tränen über die geröteten Wangen und er klammerte sich die ganze Nacht fest an mich.

Ich hatte mich mit ihm fest an meiner Brust vorsichtig zurück gelehnt, sodass wir wieder richtig im Bett lagen, und eine Decke um uns gewickelt. Er zitterte und drückte sich dabei nur noch enger an mich.

Ich konnte lange nicht einschlafen, strich ihm stattdessen durch die Haare oder über den Rücken, damit er auch im Schlaf merkte, dass er nicht alleine war. Ich wollte ihm so viel Trost spenden, wie ich nur konnte, immerhin wusste ich welch enge Bindung die beiden gehabt hatten.
Hannes hatte zwar nie viel von seinem Bruder erzählt, aber das wenige, das über seine Lippen gekommen war, war immer positiv und voller Freude. Er hat richtig zu seinem großen Bruder aufgesehen und dass dieser nun gestorben war, musste ihm den Boden unter den Füßen wegreißen.

Als Einzelkind konnte ich mir kaum ausmalen wie Hannes sich fühlen musste, aber ich verglich es mit dem Verlust eines Elternteils. Zum Glück hatte ich so etwas noch nicht erlebt, dafür war ich mir aber sicher, dass ich am Boden zerstört wäre, wenn einer der beiden plötzlich aus dem Leben scheiden würde.

Und Hannes Bruder war gerade mal Ende dreißig und sein plötzlicher Tod daher umso überraschender.

Irgendwann musste ich trotzdem eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete war es draußen bereits hell. Ich lag alleine im Bett, konnte aber die Kaffeemaschine in der Küche brummen hören.
Im ersten Moment schlich sich ein zufriedenes Lächeln auf meine Lippen, bis mir schlagartig wieder klar wurde, was heute Nacht geschehen war.
Plötzlich hellwach sprang ich aus dem Bett und zog mir eilig wahllos Klamotten über, bevor ich zu Hannes in die Küche ging.

Mein Freund stand mit dem Rücken zu mir vor der Kaffeemaschine und sah ihr beim Kaffee machen zu. Er war vollständig angezogen und trug obwohl wir Hochsommer hatten einen dicken Pullover, der ihm viel zu groß war. Einen Moment später verstummte die Kaffeemaschine, aber der Zahnarzt rührte sich nicht. Auch nachdem wenige Augenblicke vergangen waren, hatte er noch nicht nach seiner Tasse gegriffen.

„Hey Mäuschen", begrüßte ich ihm in einem sanften Tonfall und legte meine Arme um seinen Körper. Er spannte sich erst an, fast so als hätte ich ihn erschreckt, bevor er sich wieder entspannte und seinen Rücken gegen meine Brust lehnte. Ich schmiegte mich an ihn, drückte mein Gesicht in seine Halsbeuge und inhalierte seinen besonderen Eigenduft.
Auch Hannes drückte sich dabei fester gegen mich und legte seine Hände auf meine, die auf seinem Bauch lagen.

Einen Moment später löste er sie jedoch von sich und drehte sich aus meinen Armen. Ohne mich anzusehen, griff er nach seiner Tasse und wollte schon an mir vorbei in Richtung Küchentisch gehen, bis er es sich anscheinend doch anders überlegte.
Er blieb stehen und als er dann den Kopf hob, musste ich sämtliche Selbstbeherrschung zusammen nehmen, um mir meinen Schreck nicht ansehen zu lassen.

Seine Augen waren rot unterlaufen und geschwollen, selbst der sonst weiße Glaskörper war mit dicken, roten Äderchen durchzogen, tiefe Augenringe zierte sein schönes Gesicht und er war schneeweiß. Er sah aus als hätte er die Nacht über kein Auge zu getan.

Ich wollte meine Hände nach ihm ausstrecken, um sie auf seine Wangen zu legen, damit ich ihm Nähe und Wärme spenden konnte, doch Hannes wich mir mit einem abrupten Bewegung aus und schüttete dabei fast den Inhalt seiner Tasse aus. Darauf achtete er jedoch kaum. Er schien völlig neben sich zu stehen.

„Tim", kam es kratzig über seine spröden Lippen. „Bitte fahr nach Hause."

Ich zuckte überrascht zusammen. Damit hatte ich nicht gerechnet und obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, nickte ich langsam. Hannes trauerte, stand auch unter Schock und wenn er dabei lieber alleine sein wollte, dann musste ich das akzeptieren. Auch, wenn es einen fahlen Beigeschmack hatte. Ich wollte ihn in seinem Zustand nicht alleine lassen, wollte mich ihm aber auch nicht aufdrängen.

„Okay", wisperte ich, absolut nicht einverstanden damit.

„Ruf mich an, wenn du etwas brauchst, ja? Oder wenn du reden möchtest. Ich bin für dich da, Maus."

Hannes reagierte auf meine Worte nicht, senkte nur den Blick und klammerte sich eisern an seiner Kaffeetasse fest. Ich zögerte noch einen Moment, ehe ich mich zu ihm hinunter lehnte und einen sanften Kuss auf seine Stirn drückte.

Ein Hannes zum Verlieben ✓Where stories live. Discover now