S E C H Z E H N

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Direkt vor seinem Wohnhaus war ich mir dann aber wieder überhaupt nicht sicher. Das Bier hing schwer an meinen Fingern und auch die Pralinen wogen plötzlich zehn Kilo mehr. Beides erschwerte es mir sehr auf die Klingel zu drücken und meine Armbanduhr erinnerte mich mit jedem Sekunde, die verging, penetranter daran, dass es schon nach 18 Uhr war.

Zwar nur vier Minuten, aber dennoch war ich nach der vereinbarten Uhrzeit da.

Trotz dessen konnte ich mich einfach nicht dazu bewegen zu klingeln. Völlig mit der Situation überfordert, sah ich mich sogar schon nach nahestehenden Mülleimern um, damit ich die Pralinen und das Bier loswerden konnte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als wären die der Grund für meine Nervosität.

„Reiß dich zusammen, Tim", murmelte ich gegen die braune Haustür von Hannes Wohngebäude. Ich bräuchte nur Klingeln. Nur diesen kleinen, weißen Knopf drücken und die Tür aufdrücken, sobald Hannes mich reinlassen würde.

Urplötzlich ergriff mich jedoch die Angst, dass Hannes es sich anders überlegt hatte und mich gar nicht mehr sehen wollte. Vielleicht hatte er auch schon etwas anderes vor und  war deswegen nicht zuhause oder er hatte unser Treffen vergessen.

Das drückende Gefühl, das sich auf meinem Brustkorb ausbreitete, als ich daran dachte, dass Hannes mich tatsächlich vergessen hätte können, brachte mich schlussendlich doch dazu zu klingeln. Solange ich vor der Tür stand, würde ich keine Antworten erhalten und auch, wenn ich manches vielleicht gar nicht hören wollte, wie zum Beispiel, dass er unser Treffen vergessen hatte, wollte ich das wenigstens mit meinen eigenen Ohren hören.

Es dauerte lange, bis der Surrer ertönte und ich die Tür schnell aufdrückte, damit Hannes nicht vorher vom Knopf ging. Warum hatte er so lange gebraucht? Hatte er mich vielleicht wirklich vergessen oder hatte er sich noch eine Ausrede überlegt, um mich gleich wieder wegschicken zu können?
All diese Fragen ließen mich beinahe in Zeitlupe die Treppe hinauf gehen, weil sich meine Füße plötzlich wie Steine anfühlten und auch der Sixpack und die Pralinen wieder deutlich an Gewicht zugenommen hatten.

„Hey", lächelte jedoch Hannes bereits als ich in sein Sichtfeld trat. Er trug bequeme Jogginghosen und ein lockeres T-Shirt. Seine Haare lagen noch feucht auf seiner Stirn und sein Bartschatten war verschwunden.

Ich hätte mich doch rasieren sollen, war mein erster Gedanke. Im nächsten Schritt ärgerte ich mich dann darüber, eine Jeans angezogen zu haben, während Hannes die gemütlichere Variante gewählt hatte. Jetzt fühlte ich mich viel zu overdressed und wollte am liebsten direkt am Absatz wieder kehrt machen.

„Hey", brachte ich angespannt heraus. „Ich... habe dir etwas mitgebracht."
Meine Stimme klang in meinen eigenen Ohren schon extrem seltsam. Ich wollte gar nicht erst wissen, wie ich mich für Hannes anhören musste. Doch dieser schien es nicht zu bemerken oder zeigte es zumindest nicht. Stattdessen erschien ein noch breiteres Lächeln auf seinen Lippen, als ich ihm das Bier und die Pralinen entgegen hielt.

„Du hättest nichts mitbringen müssen", lächelte der Wohnungsbesitzer und nahm mir meine Mitbringsel ab. „Aber danke. Das freut mich."
Ehe ich mich versah, hatte er sich dann auch schon auf die Zehenspitzen gestellt und mir einen kleinen Kuss auf die Wange gedrückt, bevor er die Wohnungstür weiter öffnete und mich mit roten Wangen herein bat.
Auch meine Wangen wurden spürbar wärmer, während ich gegen mein breites Lächeln kämpfte und sich ein starkes Kribbeln in meinem Körper ausbreitete, ehe ich aus meinen Schuhen schlüpfte.

Die alte Frau sollte also doch Recht behalten. Hannes hatte sich über die Pralinen gefreut und zusätzlich auch noch über das Bier.

„Ich war so frei und hab uns einfach Tiefkühlpizza in den Ofen geschoben. Ich wollte eigentlich kochen, aber ausgerechnet heute musste es in der Arbeit später werden, sodass ich es gerade noch geschafft habe zu duschen, bevor du da warst", erzählte Hannes, als er mich in die Küche führte und das Bier gleich in den Kühlschrank stellte.

Es freute mich irgendwie, dass er mir gegenüber so offen war. Die letzten Male wirkte er immer verschlossener und genau das hatte ich auch an diesem Abend erwartet, aber anscheinend hatten meine Pralinen ja doch etwas bewirkt.
„Das ist dann unsere Nachspeise", schmunzelte Hannes mit glänzenden Augen und hielt die Pralinenpackung kurz hoch, bevor er sie zur Seite legte.

„Tiefkühlpizza geht in Ordnung", stimmte ich zu und warf einen kurzen Blick in den Ofen, der eine Salamipizza und eine mit Schinken beinhaltete. „Dann kochst du eben nächstes Mal für mich", witzelte ich und lachte dabei leise.

„Hört sich gut an", antwortete Hannes dann überraschenderweise darauf, sodass mir mein Lachen augenblicklich im Hals stecken blieb. Das war eigentlich nur ein Witz. Ich hätte nicht gedacht, dass Hannes zustimmen würde, aber dass er es getan hatte, ließ mich gleich noch breiter Grinsen. Das hieß auf jeden Fall, dass wir uns noch einmal sehen würden.

„Fürs nächste Mal gebe ich dir einfach meine Handynummer, dann kannst du dich melden, wenn etwas ist." Daraufhin wurde Hannes dann doch etwas rot und nickte mit dem kleinen, schüchternen Lächeln, das ich so entzückend fand. Es freute mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich es zu Gesicht bekam.

„Also...", fing Hannes an, nachdem er Teller und Besteck bereit gestellt und uns beiden ein Bier geöffnet hatte. „Soll ich gleich erzählen, was passiert ist oder sollen wir bis nach dem Essen warten?" Mit jedem Wort wurden seine Wangen roter und während er mir am Anfang seines Satzes noch in die Augen gesehen hatte, musterte er nun den leeren Teller vor sich.

„Nach dem Essen", entschied ich lächelnd und stellte meine Bierflasche beiseite, von der ich eben genippt hatte. „Erzähl mir lieber erst einmal, wie du Zahnarzt geworden bist."

„Das interessiert dich?", fragte er überrascht nach und zog beide Augenbrauen nach oben.
Es interessierte mich tatsächlich, aber mein ausschlaggebender Grund um diese Frage zu stellen war eigentlich, dass er mich wieder ansah und das hatte ich geschafft. Es war zwar süß, wenn er schüchtern war, aber mir gegenüber brauchte er das wirklich nicht sein.

Ich nickte, um seine Frage zu beantworten, was ihn offenbar nur noch mehr überraschte.
„Naja... meine Eltern sind Zahnärzte und haben eine Praxis, die irgendwann mal übernommen werden möchte, wenn meine Eltern in Rente gehen." Er zuckte mit den Schultern und griff ebenfalls nach seiner Bierflasche. „Recht unspektakulär."

„Du bist also nur Zahnarzt geworden, weil es schon eine Praxis gab?", fragte ich fast ein wenig skeptisch und zog die Augenbrauen zusammen.
Meine Eltern hatten mir immer eingeredet, dass ich machen sollte, was ich wollte. Und das obwohl mein Dad auch eine eigenen Firma hatte. Dennoch wurde nie von mir verlangt oder auch nur erwartet, dass ich sie irgendwann mal übernahm. Eher im Gegenteil. Mein Vater ging davon aus, dass ich sie nicht übernahm und plante deswegen schon den Verkauf in ein paar Jahren, wenn er bereit für die Rente war.

Hannes zögerte einen Moment, bevor er den Kopf schüttelte. Einen Moment später nickte er, ehe er angestrengt seufzte.
„Eigentlich hätte mein großer Bruder die Praxis übernehmen sollen." Er seufzte erneut. „Er hat auch Zahnmedizin studiert und dann kurz vor seinem Abschluss alles hingeschmissen und ist stattdessen Pilot geworden. Meine Eltern haben ihm das ziemlich übel genommen, wodurch unsere Familie dann etwas zerrüttet wurde. Irgendwie habe ich mich dann einfach in der Pflicht gesehen, irgendetwas zu tun. Meine Eltern lieben die Praxis und wenn Alex sie schon nicht will, dann wenigstens der zweite Sohn." Er zuckte mit den Schultern und schenkte mir ein kleines Lächeln, das jedoch weniger glaubwürdig rüberkam.

Ein Hannes zum Verlieben ✓Where stories live. Discover now