S E C H Z I G

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„Das ist doch kein Problem für dich, oder?", fragte Bettina besorgt, als wir gerade aus der Kirche hinausgetreten waren und in Richtung Friedhof gingen. Ich hatte ihre Tochter noch immer auf dem Arm, da sie sich energisch geweigert hatte, mich loszulassen. Sie klammerte sich fest an meinen Nacken und barg ihr Gesicht dabei an meiner Schulter.

„Nein, alles gut", lächelte ich, was die junge Mutter gleich etwas beruhigte. Sie hatte mit dem kleinen Hannes ohnehin schon alle Hände voll zu tun, da konnte ich mich auch ein wenig um Amelie kümmern, wenn sie sich bei mir schon wohl fühlte. Das alles hier war sowieso schwer genug für das kleine Mädchen.

Hannes klammerte sich derweil an meinen freien Arm und wirkte genauso aufgelöst wie Amelie.

Es war ein seltsames Gefühl, die ganzen Menschen, die gerade in Richtung Friedhof gingen, in erster Reihe anzuführen. Vor uns ging nur noch der Pfarrer, ein Sargträger, der die Urne trug, und zwei Ministranten.

„Soll ich ihn nehmen?", fragte Christopher, als Bettina zwischen uns laut aufschluchzte und ihre Nase hörbar nach oben zog. Mit dem Säugling auf ihrem Arm, konnte sie ihre Nase nicht putzen. Sie zögerte einen Moment, bevor sie ihn Christopher in die Arme legte, der gleich wusste, wie er das Kind richtig halten musste.

„Woher kannst du das?", fuhr Hannes Christopher über das Schnäuzen von Bettina an. Wäre er nicht so aufgelöst, würde es frecher klingen, aber so klang es vielmehr ganz normal.

Daraufhin trieb sich gleich ein breites Lächeln auf die Lippen seines kleinen Bruders, ehe seine Freundin Laura an ihm vorbei auch in unsere Richtung lächelte. Eine Hand legte sich dabei auf ihren Unterbauch.
„Noch kann ich enge Kleider anziehen", grinste sie dann und überrumpelte damit uns alle.

„Du wirst Vater?", platzte es ungläubig aus Hannes heraus, ehe er sich ruckartig von mir löste und so wirkte, als wollte er seinen kleinen Bruder am liebsten in die Arme ziehen. Dieser nickte nur grinsend. Bettina begann ebenfalls über beide Ohren zu strahlen und freute sich anscheinend sehr für ihren Schwager. Sie nahm ihm den kleinen Hannes wieder aus den Armen, woraufhin Johannes seinen Bruder schwungvoll an den Schultern packte und ihn fest in seine Arme zog. Christopher erwiderte die Umarmung sofort.
Dafür mussten sie jedoch stehen bleiben, wodurch auch die restlichen Menschen hinter uns zum Stehen kamen und der gesamte Marsch ausgebremst wurde.

„Noch ein Baby?", piepste Amelie und löste sich soweit von mir, dass sie die Brüder, die sich noch immer in den Armen hingen, auch sehen konnte.

„Ja", bestätigte ich ihr, was sie schwach lächeln ließ.

„Ihr haltet alles auf", schmunzelte Laura und zog ihren Freund am Oberarm von Hannes weg, damit wir uns alle wieder in Bewegung setzen konnten.

Zum ersten Mal seit langem konnte ich ein richtiges, ein breites Lächeln auf Hannes Lippen sehen. Seine Augen, die die letzte Zeit so traurig geschimmert hatten, strahlten für einen kurzen Moment, was mich gleich mit tiefer Erleichterung erfüllte und auch Lächeln ließ. Seine Hand fand meine wieder, ehe er seinen Arm um meinen schlang, damit wir uns noch näher waren. Seinen Kopf legte er auf meiner Schulter ab, wobei ihm ein leises, fast schon glückliches Seufzen entkam.

Das Einsetzen der Urne ging überraschend schnell. Der Pfarrer sprach ein paar Worte, ehe die Urne in die Erde gelassen wurde. Ich hatte mir sagen lassen, dass das Grab Bettinas Familie gehörte und ihre Eltern sowie ihr großer Bruder darin bereits beerdigt wurden. Somit war Alexander dort unten nicht ganz alleine. Sie hatte auch längst den Steinmetz beauftragt, dass Alexanders Name zeitnah auf dem schwarzen Marmorgrabstein hinzugefügt wurde.

Zahlreiche üppige Blumenkränze umrundeten das Grab und eine Vielzahl von Kerzen leuchteten für Alexander. Bevor das Grab feierlich geschlossen wurde, durfte sich jeder noch einmal Verabschieden, indem man Weihwasser über das Grab stäubte. Als engste Familie waren wir als erstes dran. Hannes war der Erste, ehe sein Bruder und Laura ihm folgten. Nach Bettina und ihrem Säugling kam ich mit Amelie.
Ihr kleiner Körper bebte als sie mir vorsichtig ihre Giraffe in die Hand drückte, damit sie eine freie Hand für den Weihwasserpinsel hatte.

„Tschüss Papa", wisperte sie und träufelte etwas ungeschickt auf die Urne hinunter, ehe sie den Pinsel beinahe fallen ließ, um sich wieder an mir festzuklammern. Nur gerade so konnte der Pfarrer ihn noch auffangen. Sie schluchzte laut und zog damit zahlreiche mitleidige Blicke auf sich.

Über das weinende Kind hinweg, reichte mir der Pfarrer mit einem schmalen Lächeln den Pinsel, damit auch ich mich bei Alexander verabschieden und ihm eine gute Reise wünschen konnte.

„Ich werde auf Hannes aufpassen", flüsterte ich der Urne zu.
Irgendwie wollte ich, dass er wusste, dass sein kleiner Bruder, der ihm so wichtig war, bei mir in guten Händen war. Hannes bedeutete mir so viel und ob nun fester Freund oder nicht, ich würde trotzdem immer auf ihn schauen.

Hannes begrüßte mich mit offenen Armen, als ich zu ihnen kam und schmiegte sich gleich an meine freie Schulter. Er weinte genauso bitterlich wie Amelie, wodurch ich die Nässe schon bald durch Jackett und Hemd durch spüren konnte. Ich festigte meinen Arm um ihn und drückte ihn enger an meinen Körper. Er sollte wissen, dass ich da war.
Ich lehnte meine Wange gegen seinen Kopf und drückte mit einem schwerfälligen Seufzen meine Augen zu. Es tat furchtbar weh, Hannes so am Boden zu erleben.

Auch Amelie bemerkte schnell, dass Hannes stark am Weinen war und tätschelte vorsichtig den Rücken ihres Onkels, der daraufhin seinen Kopf drehte, damit er das kleine Mädchen ansehen konnte. Sie lächelten sich sanft an, ehe Hannes seine Augen wieder schloss und erneut aufschluchzte.

„Wollen wir schonmal ins Restaurant? Ich brauche einen Schnaps und das dauert noch ganz schön."
Christopher deutete auf die Schlange an Menschen, die noch abwartend vor dem Grab stand. Ich wusste, dass es eigentlich Gang und Gebe war als Angehörige zu warten, bis alle am Grab vorbei waren, damit sie einem ihr Beileid noch aussprechen konnten. Aber mir war auch klar, dass Hannes, Christopher und erst Recht Bettina darauf verzichten konnten.

„Schnaps hört sich gut an", kam es von der Mutter. Laura hatte ihr Hannes abgenommen, damit Bettina sich ihre Tränen aus dem Gesicht wischen konnte. Dabei verschmierte ihr Makeup ein wenig, aber das schien sie nicht groß zu stören.

Wir gingen noch gesammelt am Parkplatz vorbei, damit Bettina den Kinderwagen für Hannes holen konnte, der in Lauras Armen eingeschlafen war und sich in der Wiege dann ausgiebig streckte, aber gleich weiterschlief, bevor wir die wenigen Minuten bis zum Restaurant liefen.

Das Restaurant, das heute extra für uns eine geschlossenen Gesellschaft gemacht hatte, erwartete uns bereits als wir dort ankamen. Sie brachten uns zu unserem Tisch, der als Familie direkt in der Mitte von allen anderen stand, damit die anderen Gäste um uns herum saßen. Direkt daneben stand noch ein Tisch, der laut der Bedienung für Alexanders engste Freunde reserviert war.

„Was für Schnäpse habt ihr?", fragte Christopher sofort nach, als wir uns noch nicht einmal gesetzt hatten.

„Du besäufst dich heute aber nicht?", fragte Hannes gleich skeptisch nach.

Wir ließen uns gegenüber von Christopher und Laura nieder, wobei ich gleich mein Jackett auszog und die Krawatte etwas löste. Hier musste ich nicht mehr so formell aussehen. Für Amelie hatten sie einen Hochstuhl gebracht, damit sie richtig am Tisch sitzen konnte - auf einem normalen Stuhl hätte sie kaum über die Tischplatte sehen können - und saß dabei zwischen Bettina und mir.

„Doch", antwortete Christopher nur knapp und bedankte sich bei der Bedienung, die ihm die Spirituosenkarte gebracht hatte.

Hannes seufzte daraufhin angestrengt, lockerte auch seine Krawatte und fuhr sich durch die Haare.

„Du auch?", grinste Christopher nachdem er sich wohl für einen Schnaps entschieden hatte, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob er Hannes damit nur aufziehen wollte, oder ob die Frage ernstgemeint war.

„Gibt die blöde Karte schon her", motzte der Zahnarzt daraufhin und riss seinem Bruder die Karte regelrecht aus der Hand.

Ein Hannes zum Verlieben ✓Where stories live. Discover now