A C H T U N D V I E R Z I G

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„Ich denke nicht, dass er das so gemeint hat", fing Christopher langsam an. „Er ist manchmal ein ganz schöner Choleriker, der seine Gefühle nicht im Griff hat. Das war früher schon so. Je wichtiger ihm die Person ist, desto weniger hat er sich unter Kontrolle. Das mit Alex war da das beste Beispiel."

„Super...", murmelte ich sarkastisch. „Das heißt, zwischen uns wird jetzt auch Jahre lang Funkstille herrschen?"

Das brachte Chris zum Schmunzeln, ehe er den Kopf schüttelte. „Ich will nur sagen, dass du ihm etwas Zeit geben musst, bis er das alles verarbeiten konnte. Er kommt dann schon wieder auf dich zu. Er mag dich. Und zwar wirklich gerne." Er lächelte mich aufmunternd an und begann plötzlich in seinem Rucksack zu kramen. Im nächsten Moment hielt er mir eine Trauerkarte entgegen.

„Die Beerdigung ist am Montag."

Ich musste fast gerührt schmunzeln, als ich ein kleines, schwarzes Flugzeug auf der weißen Vorderseite erkannte, das gen Horizont flog. Gute Reise stand mit geschwungener schwarzer Schrift darunter. Für einen Piloten hätten sie wohl nichts Passenderes finden können.

Auch das Innere der Karte war schlicht schwarz-weiß gehalten. In der Mitte war ein Bild abgedruckt, auf dem Alex mit einem breiten Grinsen mit einem Helm unter den Arm geklemmt gerade auf den Kameramann zuging, während man dahinter ein kleines Propellerflugzeug stehen sah. Er sah so glücklich aus und obwohl das Bild nur schwarz-weiß war, hatte es eine ganz besondere Ausstrahlung. Allein daran konnte man sehen, was für eine Liebe er für das Fliegen hatte.

In Liebe und tiefer Trauer
Deine Bettina
Deine Tochter Amelie
Dein Sohn Hannes
Deine Brüder Johannes mit Tim
und Christopher mit Laura

Ich räusperte mich angestrengt, während meine Augen verräterisch britzelten. Obwohl ich ihn nicht kannte, ging mir das alles gerade viel zu nah. Er war der Vater von zwei wahrscheinlich noch recht kleinen Kindern, die ihr gesamtes Leben bisher ohne Großeltern oder ihren Onkeln aufgewachsen waren und noch dazu jetzt ohne ihrem Vater weiterleben mussten.
Das war einfach nur grausam.
Dass seine Eltern, obwohl sie noch am Leben waren, nicht auf die Trauerkarte geschrieben wurden, zeigte deutlich, was für eine schlechte Beziehung sie zueinander gehabt hatten.

„Er hat seinen Sohn nach seinem Bruder benannt?" Meine Stimme klang seltsam belegt und trotz einem zweiten Räuspern wurde es nicht besser. Ich wollte eigentlich fragen, warum seine Eltern nicht dabei standen, aber die Frage war mir dann doch zu niveaulos. Christopher hatte gerade erst lange und breit erklärt, warum.

Christopher zuckte überrascht, als hätte er mit einer anderen Frage gerechnet, bis er nickte.

„Obwohl ich doch ein recht gutes Verhältnis zu Alex hatte, wusste nicht einmal ich, dass er Vater geworden ist oder über jemand in seinem Leben hat. Er hat nie was gesagt, nie etwas angemerkt..." Er atmete tief ein. „Er wollte nicht, dass wir etwas von seiner Familie wussten. Das allein zeigt doch schon, was für eine verkorkste Familie wir doch sind."
Er lachte humorlos auf und diesmal konnte ich mich ihm nur anschließen. Ihre Familie war wirklich verkorkst. Und es tat mir für Christopher, Hannes und auch für Alexander wirklich leid.

Beim nächsten Besuch bei meinen Eltern musste ich sie dringend fest drücken. Das zu hören, zeigte mir noch einmal deutlich, wie viel Glück ich mit meiner eigenen Familie und vor allem mit meinen Eltern hatte. Ich hatte eine wohl behütete Kindheit und bis heute war unser Verhältnis wirklich sehr gut.
Das hatte nicht jeder, deswegen durfte ich das nicht für selbstverständlich nehmen.

Es dauerte viel zu lange, und ich musste auch mehrmals drüber lesen, bis ich plötzlich realisierte, dass mein Name auch auf der Karte stand.

„Da steht mein Name", rief ich irritiert und noch dazu in einer Lautstärke aus, dass sich ein paar Leute in unsere Richtung drehten, aber recht schnell wieder die Interesse an uns verloren. „Warum steht da mein Name?"

Mal davon abgesehen, dass ich niemanden aus Hannes Familie kannte und sie mich demnach genauso wenig, waren wir getrennt. Hannes und ich waren durch kein ‚mit' mehr verbunden und trotzdem stand da mein Name neben seinem.

Christopher lachte über meine Reaktion und nickte mit einem frechen Blitzen in den Augen. Er hatte offenbar nur darauf gewartet, dass es mir irgendwann auffiel.

„Hans hat mir von dir erzählt und ich habe das natürlich Alex erzählt. Auch wenn die zwei Funkstille hatten, war er immer noch an seinem Bruder interessiert. Er muss Bettina wohl auch von dir erzählt haben. Sie hat die Karten erstellen und deinen Namen mit drauf drucken lassen. Ihr wart schon getrennt, als wir die ersten Beispiele bekommen haben, aber Johannes hat es nicht angemerkt, sondern deinen Namen stehen lassen. Das sind jetzt die fertigen Karten. Wir haben sie heute morgen erst bekommen und dein Name steht immer noch mit drauf." Er begann noch breiter zu grinsen. „Das bedeutet, dass das zwischen euch zumindest für Johannes noch nicht ganz vorbei ist."

Mein Blick fixierte meinen Namen auf dem weißen Hintergrund. Das war doch irre.
„Dann sollte er das vielleicht auch mal kommunizieren", murrte ich weniger begeistert davon und unterdrückte den kurzzeitigen Drang, die Trauerkarte einfach zusammenzuknüllen. Ich kam mir irgendwie verarscht vor.
Unsere Beziehung mir gegenüber noch als Fehler bezeichnen und meinen Namen dann trotzdem in der Trauerkarte seines Bruders, den ich nicht einmal kannte und von dem er im Endeffekt eh kaum erzählt hatte, stehen lassen. Das machte irgendwie keinen Sinn und spielte noch dazu extrem mit meinen Gefühlen.

Was genau wollte Hannes eigentlich?

„Das wird er", versicherte mich Christopher und erhob sich mit einem kleinen Lächeln. „Da bin ich mir sicher."
Seine Hand fand meine Schulter und er tätschelte sie seicht. „Wir sehen uns auf der Beerdigung, ja? Die Infos stehen ja alle in der Karte." Er lächelte mir noch einmal zu, ehe er seinen Rucksack schulterte und dann davon ging, als wäre nichts gewesen. Als hätte er mir gerade nicht ihre gesamte, verschobene Familiengeschichte erzählt und mir neue Hoffnungen bei Hannes gemacht.

Ich seufzte angestrengt und klappte die Trauerkarte erneut auf. Nächsten Montag um elf Uhr vormittags am städtischen Friedhof – diese Informationen waren etwas kleiner unter den Namen abgedruckt. Unter den Namen, bei denen sogar mein Name dabei stand.

Ich konnte es noch immer nicht glauben. Das war doch so absurd.

Kopfschüttelnd ließ ich meinen Blick noch einmal über die gesamte Aufmachung der Trauerkarte wandern. Dabei stieß mir erstmals der Text, der direkt über Alexanders Bild gedruckt war, in die Augen und ich konnte nicht verhindern, mit dem Daumen andächtig über die kursive Schrift zu streifen.
Der Spruch war wirklich schön und berührte mich noch mehr als es das alles sowieso schon tat.

Pilots never die, they just fly away.

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