F Ü N F Z I G

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Nachdem mein Kopf auch den restlichen Nachmittag nur Matsch war und ich kaum einen anderen Gedanken fassen konnte, als Hannes und diese Beerdigung, entschied ich kurzfristig, das Wochenende bei meinen Eltern zu verbringen.
Ich war schon lange nicht mehr dort, meine Eltern würden sich freuen und ich hatte sowieso noch eine Hose, bei der eine Naht aufgegangen war, die mir Mum nähen musste. Deswegen fand ich das eigentlich eine echt gute Idee. Einfach mal wieder etwas Abstand bekommen und von Mamas köstlichen Essen verwöhnen lassen.

Ich packte wahllos Klamotten in einen Rucksack, zuhause war es sowieso egal, was ich an hatte, und steckte auch meinen Laptop dazu. Nicht, dass ich etwas produktives tun wollte, aber zwei Stunden Zugfahrt waren ohne irgendeine Beschäftigung doch recht langweilig. Da konnte ich meinen Laptop wenigstens zum Filme schauen nutzen, wenn ich ihn die letze Zeit schon sonst nicht angerührt hatte.

Paul war von meinen kurzfristigen Plänen überhaupt nicht begeistert, weil ich ihn dadurch mit seinen Enchiladas alleine ließ, aber ich diskutierte nicht lange mit ihm. Während er noch am Meckern war, griff ich mir eine Wasserflasche und einen Müsliriegel aus der Küche und zog ich mir bereits meine Schuhe an. Erst da sah er offenbar ein, dass er meine Entscheidung nicht mehr ändern konnte.

„Pisser, grüß wenigstens deine Eltern von mir", rief er mir noch hinterher, als ich die Tür ins Schloss zog und mit einem Lächeln, Paul war halt einfach mein bester Freund, die Treppen hinunter dribbelte.

Mit dem Stadtbus war ich recht schnell am Bahnhof und nachdem ich mir ein Ticket gezogen hatte, musste ich nur gute zehn Minuten waren, bis mein Zug schon eintraf. Zum Glück gab es zwischen meiner Stadt und der meiner Eltern eine direkte Zugverbindung, die sogar im Stundentakt befahren wurde, wodurch ich wirklich jederzeit nach Hause und noch dazu immer einen Fensterplatz ergattern konnte.

Ich ließ mich seufzend auf einer der unbequemen Bänke nieder und kramte zu aller erst meine Kopfhörer heraus, ehe ich meinem Vater eine knappe Sprachnotiz schickte.

„Hey Papa, ich bin auf dem Weg zu euch. Mein Zug kommt in gut zehn Minuten, das heißt ich bin gegen neun bei euch. Kannst du mich am Bahnhof abholen?"

Es dauerte nur wenige Momente, da hatte mir mein Vater schon mit einem Daumen nach oben geantwortet.
Sie waren es gewohnt, dass ich erst kurz vorher Bescheid gab, was zwar ab und an schon darin geendet hatte, dass ich die vier Kilometer vom Bahnhof zu ihrem Haus zu Fuß gehen musste, weil mich keiner abholen konnte oder dass ich ein ganzes Wochenende alleine zuhause gesessen war, weil ich verplant hatte, dass sie an genau dem Wochenende ihren Jahrestag hatten und Dad meiner Mum einen Wellnesstrip geschenkt hatte.
Aber im Normfall ging es immer klar.

Mama ist heute nicht da ➡️ kein Abendessen. Wie wärs mit 〽️?

Seine Nachricht brachte mich direkt zum Schmunzeln. Wenn Dad seinen Boomerstatus nicht mit seinen flachen Vaterwitzen zeigte, verdeutlichten ihn seine Nachrichten auf jeden Fall. So ziemlich jede seiner Nachrichten bestand zum Großteil aus Emojis, wodurch ich auch oft einfach nur erraten musste, was er mir damit mitteilen wollte.

Bei dem gelben M war mir aber sofort klar, was gemeint war.

Diesmal war es an mir mit einem Daumen nach oben zu antworten und als ich dann meine Playlist gestartet hatte, fuhr auch schon mein Zug ein. Wie erwartet fand ich einen guten Fensterplatz und mit nur zwei Minuten Verspätung fuhren wir nach einer kurzen Wartezeit weiter.

Anstatt wie geplant einen Film zu schauen, pinnten sich meine Augen an den vorbeifliegenden Bäumen fest, während Musik meine Ohren beschallte. Anstatt abzuschalten, nutzte mein Kopf diese friedliche Kulisse natürlich sofort und ließ meine Gedanken direkt wieder zu Hannes abschweifen. Diesmal war es aber nicht das Problem mit der Beerdigung oder die Worte, die er mir an den Kopf geworfen hatte, sondern die schönen Momente, die wir hatten. Unser gemeinsames Kochen, das Kuscheln und Spaziergehen. Die Zeit, die wir auch mit meinen Freunden verbracht hatten oder wenn Hannes wieder gefordert hatte, meinen Mund inspizieren zu müssen, weil ich anscheinend, Zitat: „Bilderbuch Zähne" hatte. Wie er mich immer angelächelt hatte. Dieses kleinen, schüchterne Lächeln hatte sich wirklich in meine Gehirnwindungen gebrannt und ich war mir sicher, dass ich das niemals wieder vergessen würde. Generell seine Mimik, seine grauen Augen und seine zarten Lippen. Obwohl ich ihn jetzt schon über eine Woche nicht mehr gesehen hatte, hatte ich sein Gesicht noch immer detailgetreu vor meinen Augen.

Diese schönen Erinnerungen schmerzten jedoch mehr als alles andere, weshalb mir aus dem Nichts auch die Tränen in die Augen stiegen.

Das war doch echt alles scheiße.

Ich hoffte nur, dass ich mich zuhause bei meinen Eltern ein wenig ablenken konnte. Das Wetter war gut; vielleicht konnten Dad und ich wie früher an den Baggerweiher fahren oder Mum brauchte in ihrem Garten Hilfe ein Loch zu buddeln oder die Hecke zu schneiden. Ich würde mich über jede Aufgabe freuen und zu nichts nein sagen.

Ich strich mir mit dem Handrücken mehrmals grob über die Augen, bis ich mir sicher war, dass sämtliche Spuren weg waren, stellte meine Musik etwas leiser und lauschte stattdessen dem Gespräch eines Großvaters, der mit seiner Enkeltochter nur einen Sitz hinter mir saß und ihr gerade erklärte, wie Zug fahren in seiner Kindheit war.

Ja, man belauscht die Gespräche von anderen Leuten nicht, aber das lenkte mich gerade genug ab, dass ich sogar irgendwann einschlief und die gesamte Fahrt verpennte.

Dank einer Familie mit schreienden Kleinkindern wurde ich rechtzeitig, nur wenige Minuten von meinem Ausstieg entfernt, wach.

Ein Hannes zum Verlieben ✓Where stories live. Discover now