S I E B E N U N D D R E I ß I G

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Es war einfach grausam.

Mittlerweile war eine Woche vergangen seit Hannes erfahren hatte, dass sein großer Bruder gestorben war. Eine Woche seit Hannes mich nach Hause geschickt hatte. Eine verdammte Woche, in der wir uns weder gesehen, noch miteinander gesprochen hatten.

Er antwortete nicht auf meine Nachrichten oder Anrufe und als ich ihm an einem Tag mittags etwas zu essen vorbeibringen wollte, hatte er nicht auf mein Klingeln reagiert. Ich war mir zwar nicht sicher, ob er überhaupt da war, immerhin antwortete er ja nicht auf meine Nachrichten, aber irgendwie hatte ich ein verdammt schlechtes Gefühl dabei. Kurz dachte ich sogar, dass der Hörer der Klingelanlage abgenommen wurde, aber nachdem auch nach mehrmaligem Nachfragen niemand reagiert hatte, kam ich zu dem Entschluss mir das nur eingebildet zu haben.
Dass Hannes meine Nachrichten ignorierte war das eine, vielleicht wollte er einfach nur aus anderen Gründen nicht auf sein Handy schauen, aber dass er mich sogar ignorierte, wenn ich vor seiner Tür stand, das konnte ich mir nicht vorstellen.
Kurz hatte ich sogar überlegt, den Wohnungsschlüssel zu verwenden, den er mir gegeben hatte, aber das wäre das erste Mal gewesen, dass ich ihn benutzt hätte, ohne das Hannes es mir erlaubt oder auf mich gewartet hätte. Ich wollte sein Vertrauen nicht missbrauchen.

Ich machte mir große Sorgen um ihn und wollte ihm so gerne in dieser schweren Zeit zur Seite stehen. Ich hoffte, dass er zumindest mit irgendwem anderen redete, wenn er sich schon von mir abkapselte. Vielleicht mit seinen Eltern oder anderen Verwandten. Irgendwem. Hauptsache er war damit nicht allein.

Es machte mir wirklich zu schaffen, dass er mich von heute auf morgen einfach ignorierte. Ich versuchte mir selber gut zuzureden, dass er trauerte und es ihm gerade viel schlechter ging als mir, dass ich nicht so egoistisch sein durfte und ihm seinen Freiraum geben musste, aber ich konnte trotzdem nicht verhindern, dass ich nachts wach in meinem Bett lag und mir wünschte, er wäre bei mir. Ich wollte wissen, wie es ihm ging und ob er schlafen konnte. Ich wollte einfach für ihn da sein und endlich wieder bei ihm sein.

Da wir die letzte Zeit jede Nacht beieinander und auch die Tage miteinander verbracht hatten, war es nun umso schlimmer für mich, eine Woche lang gar kein Lebenszeichen von ihm zu erhalten.

Selbst Paul war schon aufgefallen, dass ich nicht so ganz auf der Höhe war und nachdem ich ihm erzählt hatte, was geschehen war, sagte er mir das selbe, das ich sowieso schon wusste. Ich sollte Hannes Zeit geben und er würde dann schon wieder auf mich zukommen.

Nur war das halt einfach gesagt. Das Warten dagegen war einfach nur blanker Horror.

„Seibold? So heißt doch Johannes mit Nachnamen?", fragte Paul plötzlich. Er blätterte laut raschelnd in einer Zeitung und ging damit nicht nur mir auf die Nerven.
Wir saßen in der Cafeteria unserer Uni, Fabian saß bei uns am Tisch direkt neben Paul und warf ihm andauernd genervte Blicke zu, weil Paul die Zeitung immer beinahe in seinen Teller hängte, während Lisa und Franziska sich gerade noch etwas zu Essen holten.

„Ja, warum?", fragte ich erschöpft nach und stocherte unbegeistert in meinem Kartoffelbrei herum. Auch heute hatte ich noch kein Lebenszeichen von Hannes bekommen und während ich mir anfangs noch Sorgen gemacht hatte, machte es mich langsam wütend. Ja, er trauerte, aber wofür war ich denn sein Freund, wenn ich ihm nicht einmal in dieser Zeit beistehen konnte?

„Alexander Seibold?", fragte Paul weiter und ließ mich damit hellhörig werden.

„Das ist sein Bruder", antwortete ich und entriss Paul kurzerhand die Zeitung.

Im lokalen Teil war ein großes Foto eines kleinen, zwei Mann Flugzeugswracks abgedruckt und ohne den Artikel lesen zu müssen, wusste ich, dass das der Grund sein musste, warum Alexander so früh aus dem Leben geschieden war.

Erfahrener Pilot verliert bei Routinecheck Kontrolle über Übungsflugzeug stand mit Großbuchstaben darüber.

Bei einer routinemäßigen Kontrolle, bei der der Übungsflughafen einmal monatlich seine zwei Mann Schulflugzeuge gründlich unter die Lupe nimmt, ist am vergangenen Dienstag ein Unglück geschehen.
Das Flugzeug des erfahrenen Schulpiloten Alexander Seibold ist kurz nach dem Start außer Kontrolle geraten und aus noch ungeklärten Gründen innerhalb weniger Minuten abgestürzt. Der Pilot ist noch an der Unfallstelle an seinen schweren Verletzungen verstorben und konnte nur noch tot aus dem Flugzeugwrack geborgen werden.
Kollegen des Alexander Seibold schließen ein Versagen des erfahrenen Piloten vollständig aus.

„Es war ein windstiller Tag mit perfekten Flugbedingungen", berichtet Geschäftspartner und enger Freund des Verstorbenen Matthias Wimmer, „Alex ist mit der Betty schon Aberhundert Mal geflogen. Er kannte das Flugzeug wie seine eigenen Hosentaschen. An ihm hat es zu hundert Prozent nicht gelegen."

Die Ursache des Unglücks wird derzeit noch geklärt. Der Leichnam kann erst nach Abschluss der Untersuchungen an die Familie des Verstorbenen übergeben werden.

Alexander Seibold war seit zwölf Jahren Pilot. Nachdem er für ein großes Luftfahrtunternehmen über Jahre hinweg Überseeflüge als Kapitän souverän geleistet hatte, haben er und Matthias Wimmer vor fünf Jahren eine Pilotenschule für Hobbyflieger eröffnet. Seitdem hat Alexander Seibold eine Vielzahl von Piloten ausgebildet und erfolgreich zu ihrer Pilotlizenz verholfen. Unter Kollegen war Alexander Seibold sehr beliebt und für sein großes Fachwissen über seine Leidenschaft die Flugzeuge bekannt. Auch sein Humor und seine offene Art wurde von vielen groß gelobt.
Die Trauer über sein plötzliches Ableben ist groß. Freunde, Kollegen und ehemalige Schüler des Piloten haben zahlreiche Kerzen, Blumen und Bilder vor dem Eingang des Vereinsheims des Flughafens platziert, um dem Piloten zu gedenken.

Ich schluckte angestrengt und überflog den Artikel erneut. Rechts neben dem meiner Meinung nach viel zu großen Bild des Wracks war ein kleines Bild von Alexander abgedruckt. Darauf sitzt er grinsend in dem Cockpit eines Flugzeuges, mit einem weißen Hemd, blauer Krawatte und hochgehaltenem Daumen. Er strahlt regelrecht in die Kamera und sieht, ohne ihn zu kennen, wirklich glücklich aus.
Die Ähnlichkeit zu Hannes entging mir dabei auch nicht. Sie hatten die selben Gesichtszüge, die selben dunkelblonden Haare und eins zu eins das selbe Grinsen. Durch den Altersunterschied von acht Jahren sah Alexander ein wenig älter aus und ein paar wenige Falten zierten sein Gesicht, aber das änderte nichts an ihrer Ähnlichkeit.

„Ein Flugzeugabsturz...", murmelte Paul, dessen Blick auf das Flugzeugwrack geheftet war. „Das ist heftig." 

Ich konnte nur nicken.

Ein Hannes zum Verlieben ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt