N E U N U N D D R E I ß I G

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Mir blieb für einen kurzem Moment der Atem weg. Hannes Gesicht war angeschwollen und rot. Seine Augen waren von seinen zahlreichen Tränen so zu geschwollen, dass er sie kaum ganz öffnen konnte. Seine Lippen waren spröde und an vereinzelten Stellen eingerissen und sein Gesicht war eingefallen und farblos. Er war wie in Trance, bewegte sich beinahe in Zeitlupe und es wirkte schon fast so, als würde er mich kaum wahrnehmen.
Während dem Essen liefen ihm nur vereinzelte Tränen über die Wangen, die er aber gar nicht zu bemerken schien.

Nach nur einer Schüssel Suppe war er satt, zumindest legte er seinen Löffel beiseite und verließ ohne einem weiteren Wort wieder die Küche, was mir zeigte, dass er nicht mehr weiter essen wollte. Kurz überlegt ich, ob ich ihm gleich folgen sollte, entschied mich aber dazu ihm etwas Freiraum zu lassen und räumte erst die Küche fertig auf, bevor ich wieder zu ihm ging.

Sein Verhalten machte mir wirklich Angst. Nicht nur die untypische Unordnung, sondern auch sein tranceartiges Auftreten.
Meine Gedanken gingen wild durcheinander, während die Sorge immer weiter wuchs.

Bevor ich aus der Küche trat, atmete ich nochmal tief durch. Ihn so zu erleben setzte mir ganz schön zu und obwohl ich versuchte rational zu denken, dass es hier nicht um mich ging, dass er trauerte und es ihm schlecht ging, ich mich deswegen nicht schlecht fühlen brauchte, wünschte ich mir gerade einfach nur eine enge Umarmung und vielleicht ein kleines Lächeln von ihm.

Hannes lag wieder in Embryostellung auf dem Sofa, hatte mir den Rücken zugekehrt und die Decke eng um seinen Körper gezogen.

„Wollen wir nicht lieber ins Bett gehen?", fragte ich fast im Flüsterton nach und streichelte ihm unterdessen über den Oberarm. Es war bereits kurz vor Mitternacht und ich wunderte mich echt selber, wo die Zeit so schnell hin war. Als ich hergekommen war, war gerade Mal die Sonne untergegangen und nun war der Tag schon fast zu Ende.

Hannes brauchte lange, bis er antwortete und selbst dann war es nur ein leises „Mh", welches wenig aussagekräftig war. Deswegen fasste ich es als ein Ja auf und wartete gar nicht weiter ab, sondern hob ihn auf meine Arme, um ihn ins Bett tragen zu können.

Damit hatte der Zahnarzt offenbar nicht gerechnet, denn er japste überrascht, ehe sich seine Arme um mein Genick schlangen und er sein Gesicht an meine Halsbeuge drückte. Ich spürte seine feuchten Wangen an meiner Haut und drückte ihn dadurch nur noch fester gegen meine Brust. Ich wollte ihm so gerne helfen und hoffte, dass eine ausgiebige Kuscheleinheit vielleicht zumindest ein paar Tränen wegzaubern würde.

Ich schlug automatisch den Weg ins Bad ein, damit wir vorher noch unsere Zähne putzen konnten, doch Hannes schüttelte direkt den Kopf und murmelte unverständliche Worte gegen meinen Hals.

„Was?", fragte ich nach und drehte meinen Kopf etwas in seine Richtung hinunter, um ihn beim zweiten Mal besser verstehen zu können.

„Heute sparen wir uns das Zähne putzen", wiederholte er nuschelnd, ohne den Blick zu heben. Ich stockte für einen Moment, entschied dann aber recht schnell, dass da lediglich die Trauer und der selbe Grund, warum sein Sauberkeitsfimmel plötzlich wie weg war, aus ihm sprachen. Sonst war Hannes immer sehr erpicht darauf, mindestens zwei Mal täglich seine Zähne zu putzen und ins Bett zu gehen, ohne ausreichender Zahnhygiene vorher, kam ihm sowieso nicht in die Tüte.
Deswegen ließ ich ihm das jetzt auch nicht durchgehen.

Obwohl er sich jetzt dagegen sträuben würde, wäre er schlussendlich trotzdem froh. Da war ich mir sicher.

Hannes grummelte unbegeistert, versuchte sich aber nicht großartig zu wehren und so standen wir einen Moment später gemeinsam vor seinem Badspiegel und putzten unsere Zähne. Für einen kurzen Augenblick war ich in die Zeit vor dem Tod seines Bruder versetzt. Als noch alles Friede Freude Eierkuchen war und wir jeden Tag miteinander verbracht hatten. Damals hatte ich noch so ein Gesicht gezogen, wie Hannes gerade eben, während er mich im Halbschlaf zum Zähne putzen genötigt hatte.

Einen Arm hatte ich dabei um Hannes Taille gelegt, damit wir ja Körperkontakt zueinander hatten und der Zahnarzt lehnte sogar gegen meine Schulter, während er die Augen konzentriert geschlossen hatte und in Gedanken wohl den Fachnamen des Zahns aufzählte, den er gerade putzte.

Schlussendlich benutzte Hannes sogar noch vorbildlich Zahnseide, ehe er sich wie ein Äffchen wieder an mich klammerte und sich von mir ins Schlafzimmer tragen ließ. Ich konnte darüber nur schmunzeln. Zumindest suchte er nach den letzten Tagen Abstand etwas Nähe zu mir.

Hannes seufzte leise, als ich ihn auf seiner Matratze niederließ und griff sofort nach der Bettdecke, um sie über seinen Körper zu ziehen. Das Gesicht drückte er dabei ins Kopfkissen und erst da fiel mir auf, dass er weder Kontaktlinsen noch seine Brille trug. Ich hatte tatsächlich keine Ahnung, welche Dioptrien er hatte und in wie fern seine Sehschwäche seinen Alltag überhaupt beeinträchtigte. Beim Essen hatte er nicht so gewirkt, als hätte er Probleme gehabt.

„Willst du deine Jogginghose nicht ausziehen?" Normalerweise schlief er immer in Boxershorts und T-Shirt, weil ihn laut eigener Aussage lange Hosen beim Schlafen störten, aber heute schien es wohl in Ordnung zu gehen, denn er grummelte nur leise.
Erst auf den zweiten Anlauf konnte ich ihn durch das abgedämpfte Reden in sein Kissen verstehen. „Mir ist kalt."

Das lockte ein kleines Lächeln auf meine Lippen, ehe ich mich selbst bis auf die Unterhose auszog und zu ihm unter die Decke rutschte. Meine Arme schlangen sich um seinen Körper, zogen ihn an meine Brust und versuchte dabei so viel Wärme wie möglich auf ihn abzugeben.
Das ließ Hannes wieder leise Seufzen. Diesmal klang es jedoch schon weniger verzweifelt als zuvor.

„Tim?", wisperte er nur wenige Minuten später in die Dunkelheit. Ich schreckte dadurch wieder aus meinem Halbschlaf und ärgerte mich gleich darüber, dass ich fast eingeschlafen war. Ich wollte ihm doch Gesellschaft spenden. Tolle Gesellschaft, wenn ich direkt einschlief.

„Ja, Maus?" An meiner schon deutlich tieferen Stimme konnte man auch gleich hören, dass ich schon mehr schlief als ich wirklich wach war.

„Kannst..." Er stockte. „Kannst du na-ach Hause fahren?"

Diesmal war es an mir zu stocken. Was? Hatte ich ihn gerade richtig verstanden? Er wollte, dass ich nach Hause fuhr? Wollte er alleine sein?
Hatte ich mit dem Zähne putzen zu viel Druck auf ihn ausgeübt?

„Soll ich wirklich gehen?", fragte ich zur Sicherheit leise nach und hoffte innig, dass er es sich vielleicht doch noch anders überlegen würde.

„Ja", antwortete er dann mit überraschend fester Stimme.

Er wollte, dass ich nach Hause fuhr und das mitten in der Nacht und obwohl wir schon längst im Bett lagen. Das ließ mich gleich angestrengt schlucken.
Ich versuchte mir diese Bitte nicht direkt zu Herzen zu nehmen. Er war am Trauern und konnte seinen Schmerz vielleicht besser alleine verarbeiten, versuchte ich mir einzureden, und dass das nichts mit mir zu tun hatte.
Dass es aber bereits das zweite Mal innerhalb kürzester Zeit war, dass Hannes mich bat zu gehen, nagte jetzt doch recht stark an mir.

Daher versetzte es meinem Herz einen ganz schönen Stich und ein unangenehmer Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich langsam aus dem kuschligen Bett kletterte und mir in der Dunkelheit meine Klamotten nur wenige Minuten nach dem Ausziehen wieder anzog. Sie waren sogar noch warm.

„Ich komme morgen zum Abendessen wieder vorbei, ja? Ich koche dir was", wisperte ich ihm zu und versuchte angestrengt nicht durchhören zu lassen, wie ich mich gerade fühlte. Stattdessen trat ich an seine Bettseite heran, lehnte mich zu ihm hinunter und strich ihm sanft durch die Haare. Kurz dachte ich, dass er sich meiner Bewegung entgegen drückte, aber sicher war ich mir nicht.
Bevor ich ging, drückte ich ihm noch einen kleinen Abschiedskuss auf die Schläfe, ehe ich leise erst das Schlafzimmer und dann Hannes Wohnung verließ.

Ein Hannes zum Verlieben ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt