N E U N U N D V I E R Z I G

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Heute war schon Freitag, das bedeutete, dass ich nur noch zwei ganze Tage hatte, um mir Gedanken zu machen, ob ich wirklich auf die Beerdigung gehen sollte. Seit dem Gespräch mit Christopher gestern konnte ich an nichts anderes mehr denken.

Ich hatte nicht das Gefühl, als wäre es angebracht, noch würde ich mich dort zwischen lauter Fremden und mit der Funkstille zwischen Hannes und mir wohl fühlen. Lediglich die Anwesenheit von Christopher ließ mich noch länger darüber spekulieren.
Außerdem wusste ich nicht, wie ich den anderen Gästen gegenübertreten sollte. Es würden unweigerlich Fragen aufkommen, sobald sie meinen Namen erfuhren, immerhin stand er fettgedruckt auf der Trauerkarte und sogar in der Annonce in der Zeitung.

Was sollte ich dann sagen? Hallo, ich bin der Exfreund von Johannes.
Wie hört sich das denn bitte an?

Zudem hatte ich große Angst vor Hannes Reaktion. Er hatte mir deutlich gemacht, dass ich ihn in Ruhe lassen und nicht weiter einengen sollte. Wenn ich aber auf der Beerdigung auftauchte, dann würde ich mich genau daran wieder nicht halten und das wäre sicherlich nicht förderlich für irgendwas.

Ich versuchte diesen Gedanken zwar damit zu neutralisieren, dass ich nicht wegen oder für Hannes dort war, sondern einfach nur als Begleitung von Christopher, meinem Studienkollegen. Aber das funktionierte auch nur mäßig, denn im Endeffekt war ich nunmal nur wegen Hannes dort und mich lange selbst zu belügen, half mir auch nicht weiter.

Hannes hatte sich auch bisher nicht gemeldet. Selbst von Christopher hatte ich nichts mehr gehört oder ihn heute am Campus gesehen. Mir war erst im Nachhinein, ich hatte die Trauerkarte mittlerweile echt auswendig gelernt, aufgefallen, dass neben seinem Namen auch ein ‚mit' stand. Ich kannte keine Laura, ich wusste nicht einmal, dass er in einer Beziehung war, aber irgendwie freute mich das. Das bedeutete schon mal, dass zumindest er mit dem Verlust seines großen Bruders nicht alleine war.

Ganz im Gegensatz zu Hannes.
Ich machte mir echt Sorgen um ihn, dachte fast ununterbrochen darüber nach, wie es ihm wohl ging und kam nicht drumrum ihn auch weiterhin unfassbar stark zu vermissen.
Dass wir wirklich getrennt waren, sickerte mittlerweile immer weiter durch meine Gehirnwindungen; das bedeutete aber noch lange nicht, dass ich deswegen besser damit umgehen konnte.

Eher im Gegenteil. Die Hoffnung, die Christopher mir mit unserem Gespräch gemacht hatte und mein Name in dieser blöden Karte, machte alles irgendwie noch schwerer. Und der Drang mich bei ihm zu melden, stieg von Tag zu Tag. Nur mit viel Mühe konnte ich mich noch irgendwie davon abhalten.

Gleichzeitig schlug sich diese ganze Situation wieder in erheblich negativer Weise auf meine Motivation nieder. Ich ließ die Uni schon wieder viel zu sehr schleifen und obwohl vor allem Franzi sich die letzte Zeit große Mühe gemacht hatte, damit ich sämtliche Mitschriften und Unterlagen beisammen hatte, hatte ich mittlerweile nicht mehr genügend Zeit, um bis zu meinen Klausuren alles aufzuarbeiten. Selbst wenn ich die Motivation hätte und mich jeden Tag mehrere Stunden hinsetzen würde. Ich hatte einfach zu große Lücken.
Deswegen versuchte ich es erst gar nicht.

Das war zwar saudumm, aber ich konnte mich überraschend einfach mit dem Fakt auseinandersetzen, dass mein Studium nach diesem Semester zu Ende war.

Viel schwerer fiel es mir dagegen, das Paul und meinen Freunden mitzuteilen. Bisher konnte ich mich vor diesem Gespräch noch gut drücken und die anstehenden Klausuren als Grund vorschieben, um mich weiterhin in meinem Zimmer verschanzen zu können, aber das würde auf Dauer auch nicht mehr gut gehen.

„Hey Paul..." Ich musste dringend mit jemandem reden.
Mein Mitbewohner stolperte gerade mit zwei vollen Einkaufstüten zur Tür herein und machte dabei mit seinem Gefluche einen unfassbaren Lärm. Im ersten Moment bemerkte er mich am Sofa gar nicht, bis er seine Tüten beiseite gestellt und seine Schuhe ausgezogen hatte.

„Tim, gut, dass du da bist", rief er gleich grinsend aus. „Wir kochen heute Enchiladas."

„Wir können auch einfach welche bestellen", schlug ich als Gegenvorschlag vor, aber mein bester Freund schüttelte gleich energisch den Kopf. „Jetzt hab ich schon alles eingekauft und Sebastian kommt heute Abend, dem habe ich welche versprochen. Ich kann mir nicht die Blamage geben und ihm gekaufte vor die Nase stellen." Er schüttelte zur Verdeutlichung seinen großen Kopf, ehe er sich daran machte, die Einkäufe zu verräumen.

Erst zehn Minuten später konnte ich seine Aufmerksamkeit wieder auf mich ziehen, indem ich eine der neu gekauften Chipstüten nahm und aufriss.
„Iss doch erst die alten, bevor wir die wieder wegschmeißen müssen", schimpfte Paul direkt und wollte mir die nun offene Packung schon entreißen, sah aber wohl ein, dass das jetzt eh schon zu spät war und warf mir stattdessen nur einen wütenden Blick zu.

„Ich brauche deinen Rat", ignorierte ich sein Gehabe einfach.

Da war mein bester Freund natürlich gleich Feuer und Flamme und zog interessiert die Augenbrauen nach oben.

„Wusstest du, dass Christopher der kleine Bruder von Hannes ist?"

„Ähh", kam es daraufhin nur von ihm, ehe er den Kopf schüttelte, sich zu mir lehnte und kurzerhand in meine Chipstüte griff. „Nein", nuschelte er dann mit vollem Mund.

„Naja, sie sind auf jeden Fall Brüder und er hat mich jetzt zur Beerdigung eingeladen beziehungsweise" Ich fischte mit meiner sauberen Hand die Trauerkarte aus meiner hinteren Hosentasche, ich hatte das blöde Ding echt überall dabei, und hielt sie Paul entgegen, der sie gleich annahm. „Steht mein Name mit auf der Trauerkarte. Also muss ich ja fast auftauchen."

„Warum steht dein Name da?"

Ich konnte nur mit den Schultern zucken. „Das wurde so an die Druckerei gegeben und Hannes hat dem so anscheinend zugestimmt."

„Vor eurer Trennung oder wie?"

Ich schüttelte gleich den Kopf. „Danach."

Paul griff sich erneut eine Hand voll Chips. „Er hat dich mit auf die Karte geschrieben, obwohl ihr schon getrennt ward? Muss man das verstehen?"

„Ich verstehe es auch nicht", seufzte ich und schob einen weiteren Chip in meinen Mund. „Chris meint, dass er das gar nicht so meint und schon noch auf mich zukommen wird. Offenbar ist für Hannes unsere Beziehung noch nicht vorbei."

Paul zog nur eine Augenbraue skeptisch nach oben.

„Und jetzt weiß ich nicht, ob ich auf die Beerdigung gehen soll oder nicht. Chris meint, ja. Und es wäre auch irgendwie seltsam, wenn ich, obwohl ich auf der Trauerkarte stehe, dort nicht auftauche. Das wirft nur Fragen bei den anderen Gästen auf."

„Was jucken dich die Fragen? Du bekommst die ja nichtmal mit, wenn du nicht da bist." Paul schüttelte verständnislos den Kopf und schob sich seine gesamte Hand voller Chips in den Mund.

„Ja, das mag sein, aber irgendwie will ich Hannes nicht in die Situation bringen, die Fragen beantworten zu müssen. Immerhin steht mein Name bei seinem. Und wenn er dann alleine dort ist, dann wirft das Fragen auf. Das will ich ihm nicht antun."

„Er hat dir doch auch sonst was an den Kopf geworfen und sich dabei keine großen Gedanken über dich gemacht. Warum denkst du dann noch so viel über ihn nach? Er ist doch selber Schuld, wenn er deinen Namen mit draufmachen lässt, obwohl er mit dir Schluss gemacht hat. Darauf brauchst du echt nicht achten."

Paul hatte Recht.
Verdammt.

Ich biss mir unbehaglich auf die Innenseite meiner Wangen und ließ mir seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen.
Es konnte mir egal sein, wie es Hannes damit ging. Immerhin war es noch nicht einmal er, der mir die Daten der Beerdigung mitgeteilt hatte, sondern Christopher. War das vielleicht ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass er mich doch nicht dabei haben wollte? Wollte er vielleicht einfach nur nicht alleine dabeistehen, wenn Chris schon seine Freundin mit dazuschrieb? Könnte das vielleicht wirklich sein?

„Er ist mir aber nicht egal", murmelte ich erschlagen. „Es sollte mir egal sein und ich sollte wahrscheinlich auch aufhören mir andauernd Gedanken über ihn zu machen und mich zu fragen, wie es ihm geht und aufhören zu hoffen, dass er sich vielleicht doch noch meldet, aber so einfach ist das halt nicht, Paul."

„Warum nicht?", fragte er mit etwas schief gelegtem Kopf.

Ja, warum nicht?
Das hat eigentlich eine ganz simple Antwort.

„Weil ich ihn liebe."

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