S I E B E N U N D V I E R Z I G

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„Es kann noch schlimmer werden?", murmelte ich echt getroffen von Christophers Erzählungen. Er dagegen sah weiterhin völlig unbekümmert aus.

„Jup", antwortete er gelassen.

„Meine Mutter und Hans haben ja eine Zahnarztpraxis, wie du weißt."

„Da wo Hannes arbeitet", bestätigte ich ihm nickend.

Daraufhin stockte er aber einen Moment. „Ja... genau... Du nennest ihn Hannes?" Warum klang er so überrascht?
„Ja, von Anfang an schon."

„Krass, ok. Nur Alex durfte ihn sonst so nennen. Er hat immer einen Aussteiger bekommen, wenn ihn irgendjemand anderes so angesprochen hat. Nichtmal unsere Eltern durften das." Er nickte andächtig und begann dann wieder zu lächeln. „Das heißt, dass du ihn ganz schön um den Finger gewickelt hast."

Mir war dabei jedoch nicht zum Lachen. Das erklärte nur, warum er plötzlich ein Problem damit hatte. Offenbar war seine Interesse an mir wirklich dahin. Andernfalls hätte er nicht aus dem Nichts heraus plötzlich beschlossen, dass ich ihn doch nicht mehr so nennen durfte.

„Naja, auf jeden Fall. Die Zahnarztpraxis... Ohne überhaupt jemals richtig darüber gesprochen zu haben, war immer klar, dass Alex die Praxis irgendwann übernimmt. Ich war noch zu jung, als er mit dem Studieren angefangen hat, aber ich kann mich noch gut an den Streitereien zuhause erinnern, weil er das Studium ganz schön ausgereizt und in die Länge gezogen hat. Ein Zahnarztstudium dauert was? Zehn Semester? Fünf Jahre? Irgendwie so... keine Ahnung ehrlich gesagt, aber Alex war mit Mitte zwanzig immer noch nichtmal ansatzweise fertig und ist dann an einem random Nachmittag nach Hause gekommen und hat beim Abendessen erzählt, dass er sein Studium heute abgebrochen hat. Du hättest das damals erleben müssen. Ich dachte, an dem Abend gibt es noch Tote. Mum und Hans waren davon natürlich überhaupt nicht begeistert und als Alex ihnen dann noch eröffnet hat, dass er sich schon vor einer Weile für eine Ausbildung zum Piloten beworben und eine Zusage bekommen hat, war sowieso Landunter. Mum war sogar so sauer, dass sie ihn noch am selben Tag vor die Tür gesetzt hat. Sie war felsenfest der Meinung, dass das was bringt und dass Alex dadurch seine Entscheidung bereut, aber ihn hätte es nicht weniger kümmern können. Er hat die Chance genutzt, ist komplett von zuhause ausgezogen und damit war schonmal die Funkstille zwischen ihm und unseren Eltern besiegelt."

Er machte eine dramatische Pause, trommelte theatralisch auf seinem Oberschenkel, ehe er weiterredete. Obwohl das wohl nur als Gag gemeint war, passte dieser stumme Trommelwirbel irgendwie dazu. Die Geschichte bisher war so absurd, allein schon, dass seine Eltern ihren Sohn rausgeschmissen hatten, nur weil er etwas anderes lernen wollte, fand ich schon krass, aber dass es danach noch weiter ging? Das konnte ich mir kaum vorstellen.

„Das zwar zufälligerweise genau zu dem Zeitpunkt, zu dem Johannes sein Abitur gemacht und sich schon an der Uni eingeschrieben hat. Ich weiß nicht, ob du es weißt, wahrscheinlich nicht, weil Johannes darüber eigentlich kein Wort mehr verliert, aber er ist verdammt musikalisch. Er spielt oder hat zumindest damals zig verschiedene Instrumente gespielt, Gitarre, Klavier, Posaune, Saxophon und Schlagzeug, wenn ich mich recht erinnere, war im Chor und im Orchestra und hat echt für die Musik gelebt. Deswegen war es auch naheliegend, dass er nach seinem Schulabschluss irgendwas mit Musik macht und hat sich auch dementsprechend an der Uni eingeschrieben..." Er seufzte leise und fuhr sich erneut durch die Haare.

„Zu dem Zeitpunkt, also nachdem Alex auszogen ist, war das einzige Gesprächsthema zuhause die Zahnarztpraxis und dass unsere Eltern jetzt keinen Nachfolger mehr hatten. Ich war schlichtweg zu jung und Johannes war sowieso immer ihr Goldjunge, den sie niemals zu irgendetwas gezwungen hätten, so wie sie es bei Alex versucht haben. Und keine Ahnung, was Johannes geritten hat oder was bei ihm zu der Zeit los war, er hat sein Musikstudium nach nicht mal einem Semester gekippt und sich stattdessen für Zahnmedizin eingeschrieben. Unsere Eltern waren natürlich heilfroh und haben ihren Goldjungen noch mehr Liebe zukommen lassen und regelrecht auf Händen getragen. Dafür hat Alex das Ganze nicht so toll aufgenommen. Damals hatten die beiden noch immer eine sehr enge Beziehung zueinander, aber dass Johannes für Alex eingesprungen ist, hat ihm nicht gespasst. Er wollte, dass Johannes das macht, was ihm Spaß macht und das war nunmal die Musik. Du glaubst gar nicht, wie viel Streitereien ich zwischen den Beiden mitbekommen habe, die teilweise auch echt unter die Gürtellinie gegangen sind. Normalerweise haben sie sich immer schnell wieder vertragen, aber dieses Thema konnte Alex einfach nicht ruhen lassen. Er hat halt auf seinen kleinen Bruder geachtet und wollte, dass es Johannes nicht genauso ging wie ihm selbst, immerhin wusste Alex von klein auf schon, dass er Pilot werden wollte." Christopher zuckte mit den Schultern. „Naja... schlussendlich hat das so weit geführt, dass Johannes auch von zuhause ausgezogen ist und die beiden von da an auch keinen Kontakt mehr hatten. Du kannst dir also vorstellen, dass Familienfeiern bei uns keinen Spaß gemacht haben und es deshalb auch keine gibt."

„Das... ist... traurig?" Das klang vielmehr nach einer Frage als nach einer wirklichen Aussage, aber come on, was sollte ich bitte dazu sagen? Das war einfach nur heftig. Ich war absolut sprachlos.
Genauso musste ich auch aussehen. Ich konnte Christopher nur anstarren und war mir sicher, dass sogar mein Mund ungläubig offen stand.

„Irgendwie war das aber auch mein Glück. Nachdem das zwischen Alex und Johannes so unschön auseinander gegangen ist, hat Alex sich umso mehr bemüht, mich vor allem vor unserer Mutter zu schützen. Mit Johannes hatte ich dato dann schon kaum mehr etwas zu tun, weil wir uns nur selten gesehen haben, wenn er zu Besuch bei meinen Eltern war. Dadurch, dass ich dann aber das einzige Kind zuhause war und dann auch noch der offensichtliche Beweis für die Untreue meiner Mutter, kannst du dir wahrscheinlich vorstellen, dass ich nicht unbedingt die beste Zeit dort hatte. Alex hat dann echt alle Mühlen in Bewegung gesetzt, um mich da wegzuholen. Ich habe dann erst ein Jahr bei ihm gewohnt, bevor ich mit achtzehn dann in eine WG gezogen bin und mein Studium begonnen habe."

Zum ersten Mal nach dieser erschreckenden Geschichte, sah Christopher etwas getroffen aus. Er senkte seinen Blick und begann unruhig mit dem Finger über die Naht seiner Jeans zu fahren.
„In den letzten Jahren konnten Alex und ich wirklich eine gesunde Beziehung zueinander aufbauen. Dadurch hat mich sein plötzlicher Tod schon so getroffen. Ich will mir da echt nicht ausmalen, wie es Johannes gehen muss. Die zwei sind den Großteil ihres Leben wie zwei Kletten aneinander geklebt und noch dazu im Streit auseinandergegangen. Ich weiß nicht, ob sie sich überhaupt jemals ausgesprochen haben. Ihm muss es schrecklich gehen."

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht wirklich", gab ich kleinlaut zu. „Er hat sich ziemlich von mir abgeschottet, sodass wir anfangs auch keinen Kontakt mehr hatten."

„Wie kam es dann zur Trennung?" Christopher bemühte sich hörbar vorsichtig und mitfühlend zu klingen, was ihm auch weitestgehend gelang. Dennoch fühlte ich mich komisch mit ihm darüber zu reden.

„Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Er hat sich von mir abgeschottet, wodurch wir uns sowieso schon kaum noch gesehen haben. Ich wollte für ihn da sein, weil ich mir gedacht habe, dass sein Bruder gestorben ist und er da sicherlich möchte, dass jemand für ihn da ist. Aber er hat mir das echt schwer gemacht und mir schlussendlich an den Kopf geworfen, dass ich ihn einenge und ihn nicht in Ruhe lasse. Im selben Zug hat er mit mir Schluss gemacht und mich aus seiner Wohnung geworfen."

Christopher schwieg daraufhin und sah einfach nur stumm den Passanten zu. Ich dagegen konnte mir nur knapp ein Seufzen verkneifen. Ich versuchte mich irgendwie auf etwas anderes zu konzentrieren, um mir nicht wieder zu viele Gedanken darüber zu machen und zum Schluss nicht schon wieder in Tränen auszubrechen.

Ein Hannes zum Verlieben ✓Where stories live. Discover now