A C H T U N D D R E I ß I G

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Es war kurz vor einundzwanzig Uhr. Ich saß noch an meinem PC und versuchte irgendwie produktiv etwas für die Uni zu machen. Ich hatte mir dafür extra Bücher aus der Bibliothek ausgeliehen, aber ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, sie aufzuschlagen. Stattdessen surfte ich gedankenverloren durchs Internet.
Dass mein Handy klingelte, bemerkte ich erst beim zweiten Klingeln. Wie in Trance griff ich danach, ohne meinen Blick von meinem Computerbildschirm zu lösen. Bevor ich jedoch auf annehmen drückte, fiel mein Blick doch auf den kleineren Bildschirm.

Hannes stand da.
Hannes rief mich an.

Mein Herz begann augenblicklich schneller zu schlagen. Mit zittrigen Fingern drückte ich hektisch auf den grünen Hörer, bevor er noch auflegte und atmete fast erleichtert auf, als mir angezeigt wurde, dass wir miteinander telefonierten.

„Hannes?", fragte ich vorsichtig nach. Es war vollkommen still auf der anderen Seite.

„Tim?", kam es einige Augenblicke später von Hannes. Seine Stimme war rau und kratzte so unangenehm, dass ich plötzlich den Drang verspürte etwas trinken zu wollen. Hoffentlich hatte er Wasser in seiner Nähe.

„K-kannst du... herkommen?"

„Gib mir zwanzig Minuten, dann bin ich da", antwortete ich gleich und klappte meinen Laptop im selben Moment zu, bevor ich mich ruckartig aus meinem Schreibtischstuhl erhob.

„Danke", wisperte mein Freund noch, ehe er den Anruf beendete.

Ich zog mir schnell ein frisches Shirt über und ärgerte mich ein wenig vorhin nicht doch duschen gewesen zu sein, aber mit einer kurzen Geruchsprobe stellte ich fest, dass ich nicht unangenehm roch. Ich hudelte in meine Schuhe und ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, schnappte ich mir Pauls Fahrrad, da ich mit der Busverbindung um diese Uhrzeit viel zu lange brauchen würde, und radelte in Windeseile durch die Straßen.

Ich atmete schwer, als ich dann bei Hannes Wohnhaus ankam, sperrte das Fahrrad wieder im Innenhof ab und joggte dann gleich zur Haustür. Da Hannes mich erwartete, zögerte ich nicht seinen Hausschlüssel zu benutzen und nahm auf der Treppe immer zwei Stufen auf einmal. 

„Maus?", rief ich ins Wohnungsinnere, als ich die Tür aufgesperrt und meine Schuhe von den Füßen gekickt hatte. Die Wohnung lag dunkel und still vor mir. Im ersten Moment dachte ich fast, dass Hannes gar nicht hier war, bis ein leises „Ja" aus dem Wohnzimmer kam.
Auch dort war es stockdunkel und nur dank dem schwachen Licht der untergehenden Sonne durch die heruntergelassenen Rollos konnte ich Hannes schemenhaft auf dem Sofa ausmachen.

„Mäuschen", wisperte ich und ließ mich langsam neben ihm auf der Sofakante nieder. Meine Hand fand seine Haare und strich vorsichtig hindurch.

„N-nimm mich bitte in den Arm."
Seine Stimme klang so ausgelaugt und den Tränen nah, dass ich nicht zögerte und mich gleich neben ihn legte. Ich rutschte unter die Decke, schlang meine Arme fest um seinen Körper und zog ihn gegen meine Brust.
Augenblicklich erfüllten mich zahlreiche Glücksgefühl. Ihn endlich wieder in den Armen halten und ihm nah sein zu können, seinen berauschenden Eigengeruch wieder riechen zu können und seine Wärme zu spüren, ließ die letzten Tage ohne ihm gleich in Vergessenheit geraten. Erst da realisierte ich so richtig, wie sehr ich ihn eigentlich vermisst hatte.

Sein Körper bebte und war eiskalt. Er drückte seinen Rücken gegen meine Brust und suchte unter der Decke nach meinen Händen. Seine waren ebenfalls kalt, als er unsere Finger miteinander in einem unangenehm festen Griff verschränkte und sich noch kräftiger gegen mich presste. Er schluchzte leise, drückte sein Gesicht in das Polster des Sofas, während ich versuchte ihm irgendwie etwas Trost zu spenden.

Ich wusste nicht, wie lange wir dort lagen und mittlerweile war mein Arm, auf dem Hannes lag, eingeschlafen und meine Fingerspitzen kribbelten unangenehm, aber ich wollte einfach nicht von ihm ablassen. Er klammerte sich noch immer fest an mich und auch sein Schluchzen hatte kaum nachgelassen.

Es tat mir in der Seele weh, ihn so aufgelöst zu erleben und zu wissen, dass ich ihm nicht helfen konnte. Ja, ich konnte ihm Trost spenden und in dieser Zeit für ihn da sein, aber seinen Schmerz konnte ich ihm nicht nehmen. Ich konnte nichts dazu beitragen, dass seine Tränen weniger wurden oder dass sein Körper nicht mehr so bebte.
Wenigstens hatten sich seine Gliedmaßen durch unseren Körperkontakt wieder ein wenig erwärmt, sodass er zumindest nicht mehr vor Kälte zittern musste. Wobei das kaum einen Unterschied machte, da sein Körper von seinem kräftigen Schluchzen noch immer hin und her geworfen wurde.

„Ti-im", wimmerte er plötzlich und erschreckte mich damit beinahe. Mein Griff um ihn festigte sich automatisch, als ich einen leisen Ton der Zustimmung von mir gab und einen kleinen Kuss auf seinem Hinterkopf platzierte.
„K-kannst d-du mir eine S-suppe ma-achen?"

„Eine Nudelsuppe?" Das war die einzige Suppe, die ich problemlos zubereiten konnte, von der ich auch wusste, dass sie am Ende schmeckte und wenn ich Hannes schon einen Gefallen tun konnte, dass sollte der Gefallen auch gut umgesetzt werden.

Er nickte nur und ich wollte mich schon von ihm lösen, als er meine Hände in seinen fest drückte und mich damit aufhielt. „Warte noch", wisperte er in die Dunkelheit, die Sonne war mittlerweile vollständig untergegangen. „B-bleib bitte noch etwas b-bei mir liegen."

Auf seine Bitte hin festigte sich mein Griff erneut und ich kuschelte mich eng gegen seine Kehrseite, damit er wirklich merkte, dass ich für ihn da war. Gerade nach den letzten Tagen ohne Kontakt zu ihm, tat es auch mir gut, wenn ich ihn so im Arm halten konnte. Wenn es möglich wäre, würde ich ihn mein restliches Leben lang in den Armen halten. Erst recht in Zeiten wie diesen.
Es dauerte noch gut zehn Minuten, vielleicht aber auch zwanzig, so gut war meine innere Uhr nicht, bis Hannes sich langsam aus meinen Armen wandte und mir damit deutlich zeigte, dass er nun bereit für seine Suppe war.
Ich hauchte ihm einen weiteren Kuss auf den Schopf, ehe ich mich aufrichtete und mich in der Dunkelheit durchs Wohnzimmer tastete, bis ich im Flur die Deckenleuchte aufreiben konnte. Zum Glück war Hannes Wohnzimmer so minimalistisch eingeräumt, sodass ich unterwegs nirgends dagegen laufen oder über etwas stolpern konnte.

Das Licht des Flures warf durch die offene Tür einen Lichtkegel ins Wohnzimmer, der direkt auf Hannes fiel, der noch immer zusammengerollt am Sofa lag. Die flauschige Sofadecke verdeckte seinen schmalen Körper beinahe komplett und nur sein blonder Schopf war zu erkennen. Trotzdem konnte ich von hier aus deutlich sehen, wie sein Körper von weiterem Schluchzen gerüttelt wurde.

Ich musste mich schwerfällig von dem Anblick losreißen und musste in der Küche erst tief durchatmen, bevor ich mich an die Zubereitung machen konnte. Hannes so zu erleben, nahm mich psychisch wirklich mit. Bisher hatte ich ihn als lebensfrohen, humorvollen, machmal etwas ernsten und spießigen, zu mir aber immer liebevollen Menschen gekannt, ihn nun so... ja, fast schon gebrochen zu erleben, verpasste auch meinem Herz einen Knacks.

Das überraschende Chaos, das in seiner sonst immer ordentlichen und penibel sauberen Küche herrschte, zeigte mir mehr als deutlich, wie schlecht es meinem Freund wirklich ging. Ich ärgerte mich schon fast darüber, nicht einfach ungefragt früher bei ihm vorbeizusehen und nahm mir fest vor weiterhin, auch wenn er mich nicht explizit fragte, hier vorbeizuschauen. Es tat ihm sicherlich gut, wenn er wusste, dass ich jederzeit für ihn da war.

Während dann die Suppe am Herd leise vor sich hin kochte, räumte ich das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, wischte die Arbeitsplatte, verräumte die leeren Lebensmittelverpackungen, die bisher nicht den Weg in den Mülleimer gefunden hatten, und schrieb einen Einkaufszettel, da sein Kühlschrank erschreckend leer war. Morgen wollte ich gleich einkaufen gehen, damit er zumindest körperlich bei Kräften blieb.
Als ich dann den Küchentisch gerade deckte, weil die Suppe jeden Moment fertig werden würde, trottete ein Deckenhaufen zu mir in die Küche. Bevor ich jedoch einen richtigen Blick auf sein Gesicht erhaschen konnte, fiel Hannes mir bereits in die Arme und klammerte sich an mir fest. Seine Tränen durchnässten bald den Stoff an meiner Schulter, während sich seine Finger fast schmerzhaft in meine Seiten bohrten.

„Meine Maus", wisperte ich ihm zu, schaukelte uns ein wenig hin und her und presste mein Gesicht in seinen Schopf.

Ein Hannes zum Verlieben ✓Where stories live. Discover now