Kapitel 30 - Neues Spiel, neues Glück

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Gestern Abend bin ich früh ins Bett gegangen, wobei ich Izumi und Norikita versprechen musste, dass wir heute Abend zusammen feiern. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen ist es schon fünf Uhr am Nachmittag. Ich habe mich mit meinem Zeichenblock und einer Flasche Wasser auf das Dach zurückgezogen, noch mehr Details von Norikita über gestern Abend und ich kann ihr nie wieder richtig in die Augen sehen. 

Um diese Uhrzeit ist der Pool überfüllter als sonst, weshalb ich mich hier ziemlich wohl fühle. Hier ist die Musik nicht zu laut, es gibt keine verschwitzten und betrunkenen Menschen und die Luft ist um einiges besser. Es weht ein leichter Wind, aber ich bin zu faul um mir meine Jacke aus meinem Zimmer zu holen. Ich lege meinen Block ab und strecke mich ein wenig. Ich habe die Zeit aus dem Auge verloren, wie lange ich schon hier bin. 

Meine Haut fühlt sich von der Sonne ausgetrocknet an und ich fahre mir durch die Haare, welche mir durch den Wind ins Gesicht fliegen. Ich schließe meine Augen für einen Moment und lehne mich ein wenig nach hinten, als ich die Tür zum Dach zufallen höre. Ich glaube zu wissen, wer um diese Uhrzeit hier hoch kommen würde und lasse deshalb meine Augen weiterhin zu. Als sich kurz danach jemand neben mich setzt und der Geruch von Adidas-Shampoo in meine Nase dringt, bestätigt sich mein Verdacht. 

Ich lasse mich nicht stören und öffne meine Augen nur ganz langsam. Ich erkenne, wie sein Blick zu dem Zeichenblock gleitet und er es an sich nimmt. Ich sehe zu ihm und erkenne, dass Chishiya mich fragend ansieht. Ich nicke ihm als Erlaubnis zu und er öffnet das Deckblatt. Ich ziehe meine Beine an und setze mich in einen Schneidersitz, um es mir neben ihm gemütlicher zu machen. Seine Augenbrauen ziehen sich wie immer hoch und er blättert weiter. 

Als er seine Mundwinkel grinsend nach unten zieht und den Block auf Augenhöhe hoch hält weiß ich, dass er anscheinend bei der Seite mit der Zeichnung von ihm angekommen sein muss. Er sieht sich die Zeichnung genau an, bevor er den Block wieder normal hält und zu mir sieht. 

"Was, hätte ich dich etwa in einem Arztkittel oder oberkörperfrei zeichnen sollen?", entgegne ich ihm selbstbewusst und er scheint leicht überrascht. Sein Gesicht ist unbezahlbar und ich kann nicht anders als laut loszulachen. Ein schmerzhaftes Ziehen durchfährt meinen Körper und ich zucke zusammen. Verdammt, dass kommt immer noch von dem Auto, welches mich angefahren hat. Chishiya scheint sich derweil wieder gefangen zu haben und sieht mit seinem hochnäsigen Blick stur gerade aus.

"Mhm. Brauchst du dafür nicht ein Model oder eine Vorlage?"

Als seine Hand zu dem Reißverschluss der Weste geht sehe ich ihn nur noch geschockt an. Ich meine das war doch nur ein Scherz, dass muss er doch begriffen haben. Nicht das ich etwas dagegen hätte aber ... warte stopp. Mein Gesichtsausdruck muss mindestens genauso bescheuert wie seiner von eben sein, denn er beginnt zu lachen und lässt die Hand wieder sinken. Doch ich schaue ihn weiterhin überrascht an, denn er grinst nicht wie sonst oder lacht leise. Nein. Er lacht herzlich und scheint sich wirklich zu amüsieren. Seine Schultern beben vor Lachen und ich kann nicht anders, als mit zumachen. Ich schubse ihn leicht an der Schulter an, doch das mindert seine Lache nicht, weshalb ich insgeheim froh bin. 

Dieser Mann ist einfach undurchschaubar. Erst erzählt er mir etwas persönliches über sich, was niemand sonst weiß. Dann ignoriert er mich fast eine Woche lang und jetzt das? Wir beruhigen uns langsam und kurz herrscht eine Stille, doch ich finde sie nicht unangenehm. Ehrlich gesagt entspannt es mich sogar.

"Deine Freundin ist keine vierundzwanzig Stunden im Beach und du brauchst schon deine Ruhe", grinst er leicht und schaut herunter auf die Anlage, wobei ich seinem Blick folge. Es dämmert langsam und die Außenbeleuchtung springt an. 

"Du würdest in meinem Fall auch die Flucht ergreifen", erwidere ich und schüttele mich bei dem Gedanken, was sie alles von gestern Abend noch erzählt hat. Chishiya scheint es genauso zu denken und er nickt nur verständnisvoll. 

"Seit dem sie hier ist verstehe ich dich noch weniger"

Verwirrt sehe ich zu ihm und er nickt nur nachdenklich. Er versteht mich weniger? Merkt er eigentlich, wie er sich benimmt?

"Sie ist so, wie ich dich im ersten Augenblick eingeschätzt habe"

"Habe ich mir schon gedacht", nicke ich zustimmend. Norikita erfüllt das klassische Klischee eines Cheerleader-Kapitäns: Sie feiert gerne, sie redet mit jedem, ist offenherzig und auch ein wenig naiv. In der normalen Welt macht sie das liebenswert, hier macht es sie zu einem leichten Ziel. "Mach dir keinen Kopf, ich verstehe dich auch nicht wirklich"

"Mhm. Es wird wohl langsam Zeit für eine neue Wette"

"Und was bekomme ich, wenn ich gewinne?"

"Falls du gewinnst", provoziert er mich spaßeshalber wie in unserer ersten Wette und ich kann nicht anders, als zu lächeln , "Der Gewinner bekommt eine weitere Frage"

"Klingt gut, und um was wollen wir dieses Mal wetten?"

Er scheint darüber nachzudenken was mir zeigt, dass es eher eine relativ spontane Idee gewesen sein muss. Abwartend und neugierig beobachte ich, wie er seinen typischen Blick aufsetzt und seine Augen für einen kleinen Moment zucken.

"Wann spielst du wieder?"

"Ich habe zwar noch ein paar Tage, aber ich habe mir gedacht übermorgen wieder zu spielen", antworte ich ehrlich. Meine Seite tut war immer noch weh, ich glaube das Auto hat mich doch härter erwischt, als ich gedacht habe. Das ganze Adrenalin in dieser Nacht, ein schlimmes Ereignis folgte dem anderen. Das mit dem Auto habe ich als eines der harmloseren Dinge angesehen. Aber Satoru hat mir bei meinem ersten Spiel beigebracht, dass es besser ist nicht am letzten Tag sein Visum zu verlängern. Die wahrscheinlich erste Lektion, die ich hier im Borderland gelernt habe. 

Ich scheine einen Moment zu lange in Gedanken gewesen zu sein und setze nachträglich ein Lächeln auf. Doch ich brauche erst gar nicht zu dem Mann neben ihr zu sehen um zu wissen, dass er es bemerkt hat. Doch er spricht es nicht an, wofür ich ihm dankbar bin. Er scheint zu überlegen, unsere erste Wette zu wiederholen, doch seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, verwirft er die Idee wieder. Wahrscheinlich ist sie ihm mittlerweile zu langweilig.

"Der Hutmacher hat vor, dir nach deinem Spiel ein neues Schlüsselarmband zu geben", sagt er und schielt auf meine Zahl, "Wir könnten schätzen"

"Du bist in der Führungsrege, wer sagt mir, dass du die Zahl nicht schon längst kennst"

"Ich schwöre es, ich habe keine Ahnung welche Zahl es sein wird. Ich vermute, dass der Hutmacher es selbst noch nicht weiß"

"Und wer näher an der Zahl dran ist, hat gewonnen?"

"Genau"

Sind ja nur ungefähr zweihundertneununddreißig mögliche Zahlen, aber theoretisch könnte ich es gut eingrenzen. Solange Chishiya eben die Wahrheit gesagt hat ist es ein fairer Wettkampf, und ich bin neugierig ob ich gewinnen könnte. 

Als Einwilligung strecke ich meine Hand aus und er ergreift sie zufrieden. In meinem Kopf schwirren schon einige Zahlen herum. Die Nummern der Führungsrege fallen weg sowie die ersten hundert Zahlen. Ich schätze, dass auch die nächsten fünfzig Zahlen nach der hundert und die fünfundzwanzig Zahlen unter meiner jetzigen Zahl auch wegfallen werden. Die Zahl müsste also zwischen einhundertfünfzig und zweihundertvierzehn liegen.

Chishiya lässt meine Hand noch nicht los und zieht seine Augenbrauen hoch, was bedeutet, dass er mir den Vortritt einer Schätzung lässt. Ich beiße mir leicht aus die Unterlippe und halte seinem Blick stand.

"hundertsiebenundneunzig"

"Zweihundertdrei", sagt er ohne zu zögern und grinst herausfordernd. Die Zahlen liegen sehr nahe beieinander, was bedeutet dass die Entscheidung ziemlich knapp werden kann. 

"Da bist du ja Sayuuri", ertönt es von Kuina und ich drehe mich zu ihr. Sie steht am Eingang des Daches in der Tür und hinter ihr erscheint Izumi. Ich lasse Chishiyas Hand los und schaue verwirrt zu den beiden.

"Du hast versprochen, dass wir heute zusammen feiern", wendet Izumi ein und beide sehen mich wartend an. Ich schenke dem Mann neben mir einen bedeutsamen Blick und verabschiede mich damit von ihm. Ich stehe auf und strecke mich ein wenig, bevor ich zu den beiden Frauen laufe und mit ihnen nach unten zur Poolanlage gehe. 

Alice in BorderlandWhere stories live. Discover now