Kapitel 55 - Meeresausblick

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Am nächsten Tag suche ich alle meine persönlichen Gegenstände zusammen und packe sie in meine Sporttasche: Mein Armband, meine Kleidung aus dem Schrank, mein Gesetzbuch zusammen mit meinem Zeichenblock und dem Gummiball. Einer der Männer vom Militärtrupp zeigt mir mein neues Hotelzimmer und ich schmeiße die Tasche auf das Bett, um mich genauer umzusehen.

Das Zimmer ist deutlich größer als mein letztes und es gibt sogar eine kleine Hausbar an der Fensterwand. Das Bett ist ein wenig breiter und am Fußende liegt eine weiche, beige Felldecke für kalte Nächte. Ich stelle fest, dass dieses Zimmer keinen Balkon beinhaltet aber dafür gibt es einen schönen Ausblick auf das Meer.

Ich lehne mich an das Fenster und beiße mir unruhig auf die Unterlippe. Seit gestern habe ich nichts mehr von Chishiya gehört und ich will es einfach nicht akzeptieren, dass er sich dafür entschieden hat mich von sich wegzustoßen. Ich reiße mich von dem Gedanken los und sehe gleich nach, was für Getränke in der Hausbar schon stehen. Ich entscheide mich für eine alte Flasche Scotch und schenke mir ein Glas ein. Meine Sporttasche deponiere ich erst einmal unter dem Bett, da ich nicht motiviert bin die wenigen Sachen auszupacken.

Ich bleibe in der Tür zum Badezimmer stehen und setze ein müdes Lächeln auf, als ich die Badewanne sehe. Ich laufe zu ihr und drehe den Hahn für das warme Wasser auf, doch anscheinend ist das nur für die Führungsrege reserviert. Ich verdrehe innerlich die Augen, stelle das Wasser aber nicht wieder ab. Ich sehe zu der Ablage am Waschbecken und begutachte die kleinen Badezusätze. Ich entscheide mich für etwas, wo Hibiskus und Pfirsich steht und kippe es in die Wanne.

Ich schenke mir noch einmal nach und warte ein wenig, bis die Wanne vollgelaufen ist. Ich schließe die Badezimmertür hinter mir und steige in das Wasser. Der Schaum reicht mir bis zum Hals und obwohl mir kalt ist, versuche ich mich ein wenig zu entspannen. Ich tauche unter, um einen kühlen Kopf zu bekommen. Es fühlt sich seltsam an und als ich meine Augen öffne habe ich eine Art Deja-Vu. Jetzt kann ich nicht mal mehr in Ruhe baden, ohne an diese Spiele zu denken.

Genervt steige ich nach einer Weile wieder aus der Wanne, da ich mich einfach nicht mehr entspannen konnte. Ich trockne mich ab und schlüpfe in meine Klamotten. Ich bin zu faul um meine Haare zu föhnen, also lasse ich sie einfach nass. Ich sammele die Handtücher zusammen und während ich die Tür öffne, schmeiße ich sie in den Wäschekorb.

Ich trete aus dem Badezimmer und entdecke einen Person, welche aus dem Fenster zum Meer sieht. Er steht mit dem Rücken zu mir, doch die weißblonden Haare würde ich selbst im Dunkeln erkennen. Ich gehe einige Schritte auf Chishiya zu und während er mich bemerkt dreht er sich ein wenig zu mir um. Er hält seinen Blick gesenkt, doch ich kann sehen wie er seine Augenbrauen hochzieht. Auch wenn er erwartet, dass ich zuerst etwas sage schweige ich absichtlich. Zum einen weil er derjenige sein sollte, er sich erklärt. Und zum anderen weil ich nicht weiß, warum genau er hier ist. Vielleicht um einfach da weiter zu machen, wo wir aufgehört haben. Oder mir weiter kalt zu begegnen und zu sagen, dass ich ihn nicht mehr nerven soll.

Er öffnet den Mund, schließt er jedoch sofort wieder ohne etwas zu sagen. Doch ich gebe mich nicht geschlagen und mache einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er scheint sich schwer zu tun, was mich ein wenig verunsichert aber ich werde jetzt keinen Rückzieher machen. Er sieht kurz zur Seite und atmet tief aus, bevor er mich wieder direkt ansieht.

"Es-es tut mir lei..."

Weiter kommt er nicht, denn ich ziehe ihn zu mir und umarme ihn fest. Also möchte er mich nicht weiter von sich wegstoßen, dass ist alles was ich wollte. Er scheint einen Moment überrascht, doch dann legt er seine Hände auf meinen Rücken und erwidert die Umarmung.

"Tut mir Leid", entschuldige ich mich lachend für die Unterbrechung, "Aber eine Entschuldigung passt nicht zu dir"

Ich höre ihn leise lachen und drücke ihn noch ein Stück näher an mich. Ich kann nicht leugnen, dass ich unglaublich erleichtert bin. So erleichtert, dass ich erst jetzt merke wie nahe wir uns sind. Ich gebe ihn wieder frei und möchte schon nervös von ihm wegtreten, doch als ich sein Lächeln sehe entspanne ich mich augenblicklich.

"Es tut mir wirklich Leid Sayuuri", sagt er und nickt nachdenklich. Sein lächeln ist ehrlich, aber es klingt langsam ab und ich sehe ihn verwirrt an.

"Was ist los Chishiya?"

"Ich hätte mich anders verhalten sollen. Ich habe nicht gesehen, dass du von dem Spiel diese Kopfwunde davongetragen hast. Wäre ich Nachts vorbeigekommen und nicht Kuina hätte ich es vielleicht gemerkt. Und wäre ich mit in die Küche gekommen, wäre ich da gewesen und nicht dieser Koch", sagt er. Seine Stimme scheint monoton, doch bei den letzten Worten mischt sich ein bitterer Ton ein.

"Du bist ein Vollidiot", lache ich und er sieht mich verwundert an, "Du hast mir schon mal das Leben gerettet, vergessen?"

Er scheint zu verstehen was ich meine und grinst sanft. Bei dem Gedanken an die Reanimation werde ich leicht rot, aber es entspricht der Wahrheit. Ich möchte nicht, dass er daran denkt was hätte gewesen sein können.

"Ein Vollidiot also?", grinst er breiter und ich nicke nur provokativ.

"Willst du heute hier schlafen? Das Bett ist wahrscheinlich nicht so gemütlich wie deins, aber es dürfte nicht mehr an Folter grenzen"

"Nicht mehr an Folter grenzen, wie könnte ich da nein sagen?", scherzt er und trotzdem steuert er das Bett an und zieht seine Weste aus. Aus einer der beiden Taschen nimmt er ein Kartenset und während er sich hinsetzt, wedelt er mit den Karten. Ich schüttele lachend den Kopf und klettere neben ihn auf das Bett. Er beginnt die Karten zu mischen und ich komme nicht umher ihn dabei genau zu mustern. Seine konzentrierten Augen, das schon triumphierende Lächeln und wie sein Gesicht von den beiden Strähnen umrandet wird. In der normalen Welt sind wir uns wahrscheinlich schon über den Weg gelaufen und ich habe ihn nicht bemerkt. Doch jetzt kann ich mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt