Kapitel 97 - Ablenkung

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Ich schlage meine schwachen Augenlieder auf und versuche eine klare Sicht wiederzuerlangen. Ich möchte mir mit meiner Hand über das Gesicht fahren, doch etwas hält mich davon ab. Ich probiere es noch einmal, doch mein Arm rührt sich nicht von der Stelle. Ich sehe verwirrt nach unten und erkenne ein braunes, dickes Lederband um meinen Unterarm. Ich versuche den anderen zu bewegen, aber ein selbes hält mich davon ab. Ein verzweifelter Schrei entfährt mir zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen, da ich genau weiß wo ich mich befinde. 

Gefesselt an den Stuhl, wo mindestens zwei Menschen gefoltert und gestorben sind. Plötzlich zucke ich zusammen und sehe panisch nach oben. Bitte lass Ann und Chishiya nicht schon tot sein! Ich versuche mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen, als ich die beiden in ihren Zellen entdecke. Aber im Gegensatz zu mir sehen sie nicht erleichtert aus, sondern sehen mit nervösen Blicken zu mir nach unten. Anns Handgelenke sind schon weiß, so wie sie sich an das Gitter krallt und nach einem kurzen Blick aus dieser Distanz lässt erkennen, dass Chishiyas Gedanken wild herumkreisen. 

Er sollte noch die Haarklammer besitzen, welche ich ihm zur Sicherheit gegeben hat, aber der Schreckensarzt wird jetzt noch aufmerksamer sein. Er betritt gerade wieder den Raum und zieht sich neue OP-Handschuhe an, dann läuft er zu seinen Geräten. Vorsichtig streicht er darüber und scheint auf jede meiner Gesichtsbewegungen zu achten, aber ohne mich. Dieses Spiel habe ich vorher bei der ersten Frau beobachten können und es gefällt dem Schreckensarzt. 

Und leider ist genau das die Lösung wie Chishiya vorhin richtig gesagt hat. Dieser Mann ist ein Sadist und genießt es anderen Menschen Schmerzen zuzufügen. Sobald er mit seiner Arbeit anfängt ist er abgelenkt aber das bedeutet auch, dass ich einiges einstecken werden muss. Der Arzt scheint langsam wütend zu werden, dass ich auf sein Spiel nicht hereinfalle. Doch gerade als er etwas sagen möchte höre ich ein Geräusch und sehe automatisch unter den Tisch. Das polternde Geräusch muss aus der metallenen Kiste kommen.

Als das Poltern nochmal ertönt mache ich den Fehler und runzele für eine Millisekunde meine Augenbrauen, bevor mein Gesicht sich wieder versteinert zu dem dem Schreckensarzt geht. Sein Gesichtsausdruck erhellt sich sofort und es bilden sich unheimliche Lachfalten an seinen Augen. Während er den Deckel der Kiste aufmacht schlägt mein Herz vor Angst und als ich die Haut sehe schüttele ich unmerklich den Kopf. 

Er holt einen metallenen Stab heraus und als ich die braungrünen Schuppen erkenne versuche ich an meinen Fesseln zu schütteln, aber sie liegen zu eng. 

"Ist sie nicht wunderschön?", beginnt der Mann fasziniert und hebt sie, mit der Stange am Hals führend aus der Kiste, "Für seine Artengattung ist er sehr aggressiv, er fühlt sich schnell bedroht besonders wenn er länger nicht an einem Gewässer gejagt hat. Magst du Schlangen?"

"Klar doch"

Gelogen. Ich hasse Schlangen mehr als alles andere, vielleicht habe ich auch einfach Panik vor ihnen. Ich bringe ein schwaches Grinsen zustande, doch ich weiß nicht ob es geplant ist oder nur die Angst vor diesem Tier. Keine Frage, er wird mich foltern egal wie freundlich und verständnisvoll ich tue. Aber vielleicht kann ich ein wenig Zeit zwischen den Foltereinheiten schinden, um von Ann und Chishiya abzulenken. 

"Unser Freund hier zählt zu den größten Riesenschlangen der Welt, wobei die Weibchen meist größer und schwerer sind. Geschlechtsreife Männchen haben Gesamtlängen von 1,88–3,34 m und wogen 2,5–14,3 kg", erklärt er und während er redet hält er die Schlange von mir fern, was mich kurz aufatmen lässt, "Die Anzahl der Schuppenreihen in der Körpermitte beträgt 55–74, kannst du dir vorstellen wie viel die Anzahl der Bauchschuppen beträgt?" 

"Variiert zwischen 239 und 266", antworte ich und kann durch die Spieglung der Metallschale auf dem Tisch erkennen, wie Chishiya beginnt unauffällig das Schloss zu knacken. Der Schreckensdoktor nickt wild und scheint weitestgehend abgelenkt, aber sobald jemand die Zelle verlässt würde er es im Augenwinkel sehen. 

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt