Kapitel 108 - Andeutungen einer Erinnerung

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Trotzdass die Sonnenstrahlen in meinem Gesicht mich stören, öffne ich entspannt meine Augen. Ich erkenne, wie die Sonne sich langsam ihrem Höchststand nähert, weshalb ich vermute es ist ungefähr kurz nach zehn Uhr. Der blaue Himmel veranlasst mich, meine Augen wieder zu schließen und mich wieder in mein Kissen zu kuscheln. Doch als ich bemerke, dass mein Kissen sich in regelmäßigen Zyklen hebt und senkt erstarre ich augenblicklich. Es ist für mich nichts neues auf Chishiya aufzuwachen, aber mein schwammiges Gehirn lässt das Geschehen von gesternt Revue passieren. 

Eigentlich hatte ich gestern vor, zusammen mir Chishiya in mein Zimmer zu gehen. Aber er hat nur stumm gemeint, dass ich getrunken habe und er es für keine gute Idee hält. Vielleicht war es besser so, aber trotzdem fühle ich mich schlecht. Möglicherweise sogar schuldig, aber ohne ihn hätte ich nichts gegessen und meine Impulskontrolle hätte um einiges deutlicher ausgesetzt. Aber statt mich einfach in mein Bett zu schicken, sind wir auf das Dach gegangen und haben den Sonnenaufgang gesehen, wobei ich eingeschlafen sein muss. 

Ich richte mich auf und streiche meine Haare nach hinten, bevor ich meine Hände betrachte. Sie zittern immer noch unkontrolliert, jedoch deutlich weniger als gestern. Zugleich genervt und erleichtert lasse ich mich auf den Rücken fallen und kuschele mich wieder leicht an Chishiya. Wenn er wach wäre, würde er es wahrscheinlich für unnötig halten oder es als typisches Mädchengehabe abtuen. Ich kann mich genau erinnern, wie er sich bei unserer ersten Umarmung versteift hat. 

Dennoch ist es mir gleichgültig und ich vergrabe mein Gesicht wieder in dem Stoff der weißen Weste. Ausgeglichen atme ich aus und schließe wieder meine Augen. Wenn ich in seiner Nähe bin, schaltet sich alles aus was die letzten Tage vorgefallen ist. 

"Willst du weiterschlafen oder wachst du nun auf?"

Mein Grinsen verbergend verstecke ich mein Gesicht noch mehr in seiner Brust und meine Muskeln entspannen sich augenblicklich. Innerlich verdrehe ich die Augen, doch ich drücke mein Grinsen nur noch mehr in den weißen Stoff seiner Weste. 

"Weiterschlafen", antworte ich kurz, versteife mich aber gleich zu dem Gedanken er könnte denken, dass es immer noch die Nachfolgen von dem Alkohol sein könnten. "Aber wir können auch erst einen Kaffee aus dem Restaurant holen und uns dann in mein Zimmer schleichen"

Ein kaum merkbares Beben zeigt mir, dass er leicht lacht. Ich hebe meinen Kopf an um es mit eigenen Augen anzusehen und ein warmes Gefühl umschließt meine Brust. Er erwidert meinen Blick und selbst aus diesem Winkel, so wie er immer noch auf dem Boden liegt, sieht er perfekt aus. 

"Einverstanden, ich hole den Kaffee und du gehst schon vor"

Ich setze mich auf und er tut das Gleiche. Mein Blick schwenkt auf seinen Rücken und meine Augenbrauen ziehen sich unweigerlich zusammen. Einzelne Kieselsteine von der Beschaffenheit des Bodens haben sich in seinen Rücken gebohrt, und auch als sie abfallen erkenne ich dunkle Abdrücke auf dem sonst so makellosen Stoff. 

"Tut mir Leid", murmele ich wobei er es dennoch hört. Auch wenn die Abdrücke nicht schmerzhaft aussehen, kann es nicht angenehm sein so einzuschlafen. Chishiya tut es mit einem kurzen Lachen ab und an seinem strengen Blick erkenne ich, dass er wieder ein Augenrollen unterdrückt.

"Huh? Macht doch nichts", sagt er trocken, doch dann wird sein Blick weicher und er durchbohrt mich fast mit seinen Augen, "Du hast im Schlaf geredet"

Verdammt, nein. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich geträumt habe. Ann hat mir schon mitgeteilt, dass ich hin und wieder im Schlaf rede, meine Wangen färben sich rötlich. Weshalb ich mich so benehme? Habe ich etwas anzügliches geträumt oder etwas in der Richtung. Das ist so peinlich.

"Was habe ich gesagt?", sage ich kleinlaut und wippe ungeduldig mit meinem Bein. Bitte nicht. 

"Du hast ein paar Worte geflüstert. Nur den Namen deines Onkels und 'Bitte nicht'", sagt er emotionslos und mein ganzer Körper spannt sich an. Plötzlich weiß ich genau, was ich geträumt habe und dass es kein normaler Traum war. Es war eine Erinnerung. 

"Treffen wir uns in zehn Minuten in meinem Zimmer?", tue ich das Thema ab und stehe auf. Ohne eine Antwort abzuwarten laufe ich zu meinem Hotelzimmer und kratze mich nervös an meinem Arm. Nach allem was mein Onkel mir angetan hat bin ich verunsichert, was ich Chishiya sagen kann. Die Wahrheit oder eine schnell improvisierte Lüge?

In meinem Zimmer laufe ich ungeduldig auf und ab, ich höre nicht einmal wie sich die Zimmertür öffnet und Chishiya die Kaffeetassen auf dem Couchtisch ablegt. Erst als ich seine Körperwärme hinter mir spüre werde ich weich und drehe mich zu ihm. 

"Zeig mir deine Rippen", sagt er und wegen seiner Bitte erstarre ich einen Moment. Doch als ich das Zittern an meiner Hand erkenne kann ich nachvollziehen, dass er darauf geschlossen hat. 

"Chishiya...", beginne ich, doch ehrlich gesagt fällt mir keine Ausrede ein. Ich verstumme und versuche mir etwas einfallen zu lassen. 

"Zeig es mir", sagt er emotionslos, doch als sich unsere Augen treffen wird sein Blick sanfter, "Ich will nur danach sehen"

Schon fast widerwillig entspannen sich meine Arme und ich nicke stumm. Ich trage immer noch das Kleid von gestern, welches ich an der Seite hochziehe und seine blauschwarze Farbe sich zu dem reinen Weiß mischt. Eine zu lange Sekunde verhärten sich seine Gesichtszüge, dann versucht er professionell zu wirken.

"Nur Prellungen", sagt er mehr zu sich selbst mit einem leichten Augenbrauenrunzeln. Sein Blick verweilt einen Augenblick zu lange auf meine Wunde, weshalb ich innerlich unruhig werde. Ich wollte das mit meinem Onkel klären, ich will das selbst klären. Ich möchte nicht, dass Chishiya eingreift und an seinen Augen kann ich erkennen, wie er verschiedene Szenarien durchgeht und einen Plan ausheckt. 

"Ich erzähle es dir ein anderes Mal", beginne ich und greife ihn am Handgelenk, "Aber das ist eine Familienangelegenheit"

In seinem Ausdruck erkenne ich nichts, seine emotionslosen Augen durchlöchern mich mit Fragen. Jedoch schweigt er und nickt nur. Ich laufe immer noch vorsichtig zu dem Couchtisch und nehme mein Tasse kochenden Kaffee in die Hand, bevor sich zu dem Mann neben mir sehe. Ein einwilligendes Lächeln schleicht sich auf seine Lippen, wenn auch nur eine Sekunde lang. Dann nimmt er ebenfalls seine Tasse und scheint das eben gesagte abzulegen und hinter sich zu lassen. 

Alice in BorderlandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt