Starthilfe

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Sie konnte nicht aufhören, zu heulen. Egal, wie sehr sie sich sagte, dass alles gut werden würde, die Last, die auf ihre Schultern drückte, war so schwer, dass sie nach Luft japsen musste. Sie wunderte sich fast, dass sie nicht mitsamt dem Stuhl in den Boden einsank oder einbrach. Das Leben schnellte an ihr vorbei und sie saß hier und konnte den Finger nicht vom Pauseknopf nehmen.

Nur sie lief in Slowmotion, das spürte sie. Doch sie wusste nicht, wie sie wieder auf normale Geschwindigkeit springen sollte. Es war zu viel. Zu viel zu verkraften, zu viele Kämpfe, zu viel Emotionen. Sie würde jeden Moment zerbersten wie ein Glas, das auf kalten Steinboden fiel. Oder eins, das in einen Schraubstock gespannt war und dem Druck nicht mehr standhalten konnte.

So oft war sie durch dieses Tal gegangen, doch gerade half ihr dieses Wissen nicht. Eher war es so, dass sie sich fragte, wieso. Scheinbar kam sie ohnehin wieder an den gleichen Punkt. Was machte es dann für einen Sinn, sich ins Gefecht zu werfen und ihre Frau zu stehen? Eine, die zwar nicht der optische und charakterliche Bringer war, aber immerhin im Bett was zu bieten hatte, so der O-Ton der Verflossenen.

Zum wiederholten Male fragte sie sich, was sie aus dieser Aussage lernen sollte. Hatten deswegen immer alle versucht, sie zu ändern? Weil sie falsch war? Sie fühlte sich falsch. Sie reagierte gerade falsch. Irgendwo in ihr hallte eine Stimme, die ihr sagte, dass sie unrecht hatten, doch sie konnte sie fast nicht wahrnehmen, so verwaschen war sie. So klein. So ... unbedeutend. Und selbst, wenn die Stimme die Wahrheit sagte, was hieß das? Dass sie nie wahrgenommen worden war.

Nicht wirklich. Nicht in ihren Facetten, die in ihr schlummerten. Da musste doch mehr sein, als das, was ihr attestiert worden war. Immer wieder. Warum sie alle immer ändern wollten. Halt! Nicht alle! Es gab Menschen, die sahen mehr. Dafür war sie wahnsinnig dankbar. Die stärkten die kleine, fiepsende, verwaschene Stimme und holten das Beste aus ihr heraus. Selbst, wenn sie das nicht konnte. Wie gerade.

Die drückten die Starttaste für sie, wenn sie eingefroren war und nur wegen ihrer Sturheit noch atmete. Sie beatmeten sie, wenn ihr die Luft in den Lungen gefror und nicht mehr entweichen konnte. Oder lüfteten den Stein auf ihrer Brust, der das Heben und Senken eben jener vereitelte.  Sie mochte es nicht, dass sie es nicht schaffte, diese Gewichte selbst von sich zu stoßen. Sondern auf andere angewiesen war. Es machte sie abhängig. Sie hatten die Macht und alle Fäden in der Hand. Sie gaben ihr das Feuerzeug, um die Leuchtraketen in die dunklen Wolken zu schießen, um sie zu erhellen.

‚Das ist nicht wahr', fiepste es erneut in ihr. ‚Sie sind wie Batterien, die dir Starthilfe geben. Doch gefahren bist du immer selbst. Du sitzt selbst am Steuer und lenkst den Wagen. Du hast Beifahrer, die du mitnimmst. Doch die Macht hast du. Sie wollen sie gar nicht. Denn sie wissen, dass du eine gute Fahrerin bist. Du navigierst dich durch die Wege und Straßen des Lebens, seit du geboren wurdest.'

Kaum drang dieser Gedanke in ihr Bewusstsein, strömte mehr Sauerstoff in ihre Lunge. Das stimmte! Egal, wie dunkel die Zeiten gewesen war, einerlei, wie oft sie Starthilfe gebraucht hatte, manche Menschen in ihrem Leben hatten sie ihr gern gegeben. Die anderen waren schlicht nicht mehr an ihrer Seite. Sollten sie auch nicht. Denn sie hatten Radklemmen an den Reifen befestigt, um sie an Ort und Stelle zu halten und sie nach ihren Vorstellungen zu formen.

‚Ja! Du bist ihnen weggefahren, ok? Außerdem warst du ebenfalls an der Seite deiner Helfer, wenn sie mal im Schlamm feststeckten! Du hast ihnen genauso geholfen, den Wagen aus dem Morast zu schieben. Ihr habt euch gegenseitig geholfen. Du bist so viel mehr, als das, was dir die Verflossenen gesagt haben. Du musst nur daran glauben, dass sie Einfaltspinsel waren. Und auch, wenn deine Reifen gerade selbst keinen Gripp haben und du nicht weißt, wie du weiterfahren sollst, geht es weiter! Guck! Hier kommen die Keile, um sie unter die Räder zu legen...', klang es kräftiger in ihr.

„Mama? Können wir zum Spielplatz gehen?", vernahm sie und drehte den Kopf.

Automatisch nickte sie und stand auf. Sie spürte, wie der Startknopf gedrückt wurde. Das Gewicht war noch da. Aber leichter. Plötzlich bimmelte ihr Telefon. Eine Freundin fragte, wie es ihr ging. Sie starrte auf das Display. Ja, wie ging es ihr? Besser. Denn jetzt strömte wieder Sauerstoff durch ihren Körper. Außerdem wusste sie wieder, dass es ok war, manchmal Starthilfe zu brauchen, um weiter durchs Leben zu cruisen und dabei laut einen Song mitzugrölen. Auch, wenn's mal ein trauriger war.

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now