Das Vermächtnis

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Sie stand auf einem Hügel und starrte auf das Dorf unter ihr, während die Sonne auf sie herunterschien und der Wind an ihrem Haar zog. Sie spürte, wie sich die einzelnen Strähnen aus dem lockeren Zopf gezogen wurden und sie umwehten. Auch an ihrem Sommerkleid zog die Brise, die wohltuend um ihren Körper strich. Die letzten Tage war es so heiß gewesen, dass sie es hatte kaum ertragen können. Doch heute frischte der Wind die Hitze auf und wenn ihr Kopf nicht so voll gewesen wäre, hätte sie es genießen können. Dann hätte sie Frieden empfinden können, so wie sonst, wenn sie hierherkam.

Doch ihr war das Herz schwer und die Luft war trotz des Windes zu dick, um frei atmen zu können, während sie auf die Idylle sah, die sich unter dem Hügel malerisch in die Landschaft schmiegte. Hier war ihre Heimat. Ein sicherer Hort in einer verrückten Welt, die immer mehr Kopf zu stehen schien. Doch heute zitterten ihre Knie und der Frieden wollte sich nicht einstellen.

Stattdessen schien sie die pittoreske Szenerie heute zu verhöhnen. Es war nicht überall so und es würde nie so sein. Sie verschloss genauso die Augen vor dieser Tatsache wie der Rest der Menschheit auch, die nicht so leben konnten wie sie. Doch jetzt hatte sie der Fakt eingeholt, dass alle Idylle nur ein Trugbild war.

Erneut strich sie sich über die tränennassen Augen, versuchte, sich beruhigen zu lassen, wie nur dieser Ort es sonst konnte. Das Zittern ihres Körpers wollte nicht abflauen, stattdessen tobte der Schmerz durch sie und sie konnte ihm kaum etwas entgegenzusetzen. Ihre schlimmste Angst war eingetreten, dachte sie und strich über die Kugel, die sich unter ihrem Kleid abzeichnete. Ihr Baby würde nie seinen Vater kennenlernen können.

Er hatte den Kampf verloren, der ihn beschäftigt hatte, seit er aus Afghanistan zurückgekehrt war. Sie hatten alles versucht, damit er wieder zurückfand aus den Erlebnissen, die ihn seitdem gemartert hatten. Er hatte ihr nicht viel erzählt, aber sie hatte jede Sekunde mit ihm gelitten, wenn er nachts schweißgebadet und schreiend wachgeworden war, weil seine Träume ihn zurück in den Krieg geführt hatten. Wie oft hatte sie ihn da angefleht, wieder zu ihr zurückzufinden in die Gegenwart, in ihre Idylle? Sie konnte es nicht zählen.

Er hatte sich so gefreut, als sie ihm erzählt hatte, dass er Vater werden würde, in seinen Augen hatte so viel Glück gestanden und sie hatte gedacht, das würde die Wende geben. Jetzt hatte er noch etwas, an dem er sich festhalten konnte, hatte sie gemeint. Doch die Schatten der Vergangenheit hatten so schwer gewogen, dass ihn nicht mal mehr die Therapie vor dem freien Fall hatte bewahren können.

Er war immer stiller geworden, hatte immer mehr gekämpft und sie hatte versucht, ihn zu stabilisieren, doch nichts hatte etwas gebracht, wie der Brief in ihrer Hand und seine leere Seite des Kleiderschranks bewies. Sie hätte es ahnen müssen, als er sie am gestrigen Abend geliebt hatte, als würde er es das letzte Mal tun, als würde er Abschied nehmen. Sie hatte nicht begriffen, erst jetzt wusste sie, dass ihr Bauchgefühl sie nicht getäuscht hatte.

Als sie die Augen heute aufgeschlagen hatte, hatte der Brief neben ihr gelegen und als sie den Kopf ruckartig hob, bemerkte sie die geöffnete Schiebetür ihres Kleiderschrankes. Sie war aufgesprungen, war aus dem Schlafzimmer gerast, hatte ihr kleines Häuschen durchsucht, in dem sie das Kinderzimmer gerade gestrichen und eingerichtet hatten. Er war weg. Unwiderruflich.

Seitdem fühlte sie sich, als wäre die Blase der Hoffnung endgültig geplatzt. Seitdem tobte dieser Schmerz durch ihr Innerstes, gemischt mit Wut und Verzweiflung. Sie konnte sich nicht mehr beruhigen. Da war er körperlich unversehrt zu ihr zurückgekehrt und nun verlor sie ihn so? Mit einem Abschiedsbrief, in dem er ihr erklärte, er könne sie nicht weiter in seine Dunkelheit ziehen, denn sie wäre das Licht und ihr kleiner Sonnenstrahl habe nur Licht auf der Welt verdient?

Sie hätte ihm geleuchtet, verdammt! In jeder einzelnen Sekunde hätte sie ihm geleuchtet, bis er selbst wieder das Licht hätte sein können! Erneut entrang sich ein Schluchzen ihrer Kehle. Es war so unfair! Welchen Sinn machte das alles? Wo blieb der Sinn? Sie starrte auf ihre Hand, die auf ihrer Babykugel ruhte und an deren Ringfinger nun zwei Ringe ruhten. Einer war ihr zu groß. Sie würde ihn aufbewahren, so viel war sicher. Um ihrem Baby erzählen zu können, wer sein Vater war, wie sehr er sie geliebt hatte. Seine Frau und das kleine Mädchen, das in ihr heranwuchs.

Vielleicht kam er zurück? Der Gedanke schickte einen Energiestoß durch sie. Womöglich musste er das für sich regeln und dann kam er wieder? Irgendwo musste es Heilung für ihn geben von dem Leid, das er mit sich herumtrug, oder nicht? Ein Windstoß riss an ihrem Kleid und sie lenkte den Blick auf die Idylle des Dorfes zurück. Vielleicht war sie eine Träumerin und klammerte sich an eine unerfüllbare Hoffnung, aber die Luft wurde leichter und füllte ihre Lunge wieder komplett. Der Schmerz in ihrer Brust ließ ebenfalls nach. Frieden war es noch nicht, dafür war das Zittern in ihr noch zu vorherrschend, aber sie wurde ruhiger.

Er würde diesen Kampf für sich ausfechten und dann zurückkehren. Wann immer er so weit war. Das würde sie ihrem Baby erzählen, entschied sie und schloss die Augen, während der Wind an ihr zog und die Sonne ihre Strahlen über ihr ausschüttete.

Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now