Die Hölle

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‚Ich sollte nicht. Aber... es geht schon. Nur ein bisschen. Ich hab das unter Kontrolle', sagte sie sich und betrat das Etablissement, in dem sie so oft Zerstreuung suchte.

Sie ließ sich von der freundlichen Servicekraft bedienen und sah sich verunsichert um, während sie gegen die Zweifel kämpfte, der sich mit dem Drang abwechselte, dieser Beschäftigung nachzugehen. Ihre Finger zitterten, als sie nach ihrem Portemonnaie fischte - aus Vorfreude. Während die Atmosphäre auf sie einprasselte und sie das Singen der Geräte wahrnahm, suchte sie sich einen freien Automaten und schaltete ihn frei. Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich erhöhte und die altbekannte Aufregung von ihr Besitz nahm.

‚Ich hab das unter Kontrolle', erinnerte sie sich nochmals und schob den Schein in die Maschine.

Sie suchte sich ein Spiel und machte den Einsatz. Ihre Aufmerksamkeit wurde kurz abgelenkt, weil ein anderes Gerät gerade Geld auszahlte. Wie Musik klang es in ihren Ohren. So würde es ihr heute auch gehen. Bestimmt. Sie hatte es im Gefühl. Heute würde sie die Verluste der letzten Zeit ausgleichen und danach würde sie groß einkaufen und ein Festessen kochen. Keine Dosen heute. Nein, ein richtiges Schnitzel. Bestimmt. Sie betätigte die Starttaste und tauchte in die Welt der tanzenden Walzen ab, in der Glück und Pech so nahe beieinanderlagen.

*

‚Scheiße. Scheiße. Das war knapp. Bei der nächsten Umdrehung. Er kommt gleich. Ich weiß es. Noch 10 Euro. Dann hab ich bestimmt alles wieder. Dann gibt es das Festessen. Mit Sicherheit', versuchte sie sich zu beruhigen und fingerte wieder nach der Geldbörse.

Als sie ins Scheinfach sah, erschrak sie. Sie hatte doch aber erst vorher Geld geholt! Alles, was sie diesen Monat noch zur Verfügung hatte. Das hatte sie doch nicht alles schon in den Automaten geschoben, oder? Das konnte nicht sein. Wie sollte sie denn jetzt...? Aber der große Gewinn wartete. Sie zog den Reißverschluss ihres Kleingeldfaches auf und fummelte ein paar Münzen hervor. Mehr brauchte sie nicht, dann hatte sie alles wieder.

Sie sah sich nervös um. Das musste einfach klappen. Wenn sie diesmal die Miete wieder nicht bezahlen konnte, dann würde sie riesigen Ärger bekommen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Sie war mit ihrem Ex-Freund einmal in eine Spielhalle und hatte ihm nur zugesehen. Er hatte an dem Abend mehr gewonnen, als er sonst verdiente. Das hatte sie beeindruckt. Und es hatte Spaß gemacht, den tanzenden Walzen zuzusehen und die Melodien zu hören, wenn ein Gewinn angezeigt wurde.

Nur beim Zusehen hatte sich ihr Puls erhöht, wenn er wieder einen Gewinn eingefahren hatte oder knapp an einem vorbeigeschrammt war. Sie hatte sich so lebendig gefühlt. Es war so anders als der Alltagstrott gewesen, den sie sonst gelebt hatte. In der sie ihre Verantwortung sonst erdrückte. Am nächsten Tag war sie allein zurückgekommen und hatte ihr erstes Spiel gewagt. Sie hatte nur ihren Einsatz wiederhaben wollen und hatte so viel mehr gewonnen. So viel, dass sie so manchen Wunsch hatte erfüllen können, der sonst nie drinstand.

„Alles in Ordnung?", wurde sie aus ihren Gedanken gerissen und sie sah die Servicekraft an, die sie besorgt musterte.

„Ja, na klar. Alles gut. Ich ... ich muss nur kurz zur Bank. Können Sie das Gerät kurz blockieren? Ich hab da schon ... er braucht nicht mehr lange, dann...", stammelte sie und merkte, wie ihr Röte ins Gesicht schoss.

„Tut mir leid, das dürfen wir nicht."

„Ja, aber, da steckt mein ganzes Geld drin. Es ist kaum etwas los, der Automat fehlt Ihnen doch nicht! Wenn jetzt ein anderer dran geht, dann fährt der mein Geld ein. Das geht nicht. Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Bitte?"

Jetzt wurde der Blick der Angestellten mitleidig und sie krümmte sich innerlich. Welches jämmerliches Bild musste sie gerade abgeben? Plötzlich meinte sie, die anderen Gäste würden sie hämisch ansehen und sie merkte, wie ein Mann offenbar wartete, dass sie das Gerät freimachte. Der wollte ihr Geld! Das war doch schon Geld von der Miete gewesen, das konnte sie ihm nicht überlassen!

„Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, aber Sie wissen, dass es Hilfestellen gibt? Ist gar nicht so weit von hier", sagte die Servicekraft halblaut, sodass nur sie diese hören könnte.

„Ich brauche keine Hilfe! Ich hab das unter Kontrolle! Ist nur zum Spaß, klar?!?", zischte sie zurück, weil sie schlagartig Wut flutete, und die Servicekraft lächelte sie an, ehe sie nickte.

Die Angestellte entfernte sich und ihr Blick blieb an dem Flyer hängen, der vorher nicht auf dem Tischchen gelegen hatte. Auch eine Visitenkarte lag da nun. Unentschlossen sah sie drauf, las den Text, der auf dem Handout stand: „Wenn das Spiel zum Problem wird". Sie hatte kein Problem. Sie spielte nur zum Spaß. Sie hatte alles unter Kontrolle.

Wieder klingelte es an einem anderem Automaten und ihr Herz zog sich zusammen. Wieso hatten immer die anderen Glück? An dem Gerät hatte sie vorgestern gespielt und jetzt gewann ein anderer ihr Geld! Sie bemerkte, dass sie zitterte und auch ihre kalten Hände waren schwitzig. Überhaupt lief ihr der Schweiß von der Stirn. Hier war es aber angenehm temperiert. Wieder wanderten ihre Augen zum Flyer.

‚Nein! Ich habe kein Problem! Ich will nur Spaß! Raus aus dem Alltag! Ich bin hier nur zum Spaß!", gellte es in ihr und sie beeilte sich, ihre Taschen zusammen zu raffen und sich aus dem Gerät auszuloggen.

Sie spürte den Blick der Angestellten im Rücken und bemühte sich, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen, während sie die Spielhalle verließ. Sie würde dann eben an anderer Stelle das Geld zurückgewinnen. Sie war ein Glückskind, das hatte ihr Vater immer gesagt. Also würde sie das schon hinbekommen! Hilfe! Was bildete die sich überhaupt ein? Sie bekam es wieder! Sie brauchte nur einen großen Gewinn, um aus den Miesen zu kommen und dann würde sie nie wieder eine Spielothek betreten. Sie konnte das, weil sie nämlich kein verdammtes Problem hatte!

Sie lief zur Bank und hob den Rest ab. Sie würde noch heute ihr Geld zurückgewinnen und dann konnte sie alles wieder zurückzahlen. So würde es sein. Vor ihren Augen baute sich das enttäuschte Gesicht ihres kleinen Lieblings auf. So musste es sein. Sie durfte ihn nicht weiter so leben lassen. Er brauchte Klamotten und ein neues Bett. Heute würde sie alles dafür gewinnen, um ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Denn wenn sie heute gewann, dann würde sie nie wieder eine Spielhalle betreten.

Sie brauchte diesen Thrill gar nicht, redete sie sich zu und betrat eine andere Spielhalle. Der Angestellte dort begrüßte sie freundlich und sie setzte ein Lächeln auf. Sie würde jetzt gewinnen. Diesmal würde es nicht laufen wie sonst. Sie war ein Glückskind. Das hatte schon immer ihr Vater gesagt.

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now