Ungebührliches Verhalten

4 3 0
                                    

Schnaubend warf sie das Handy zur Seite. Was für ein Arsch! Hatte sie ihm nicht mehrmals geschrieben, dass er sie mit solchen Texten in Ruhe lassen sollte? Sie hatte sich doch deutlich ausgedrückt, als sie ihm erklärt hatte, dass es sie nicht interessierte, dass er gerade geil war! Sollte das Kennenlernen darstellen, bis es zu einem weiteren Date kam?

Wieso waren eigentlich alle Männer, die sie so kennenlernte, solche triebgesteuerten Volldeppen?!? Da fing eine Unterhaltung nett an und plötzlich drehte sich alles. Schlagartig kannten die werten Herren der Schöpfung nur noch das Thema Sex. Und dann die Aussage!!! „Das musst du verstehen, ich bin eben nur ein Mann."

Wie sie eine solche Behauptung ankotzte! Bisher war sie der Annahme gefolgt, dass natürlich jedes Lebewesen - unabhängig seines Geschlechtes - einen Sexualtrieb hatte. Der Unterschied zwischen Tier und Mensch war jedoch, dass dieser nicht nur durch Instinkte angetrieben wurde. Ein Hengst roch eine rossige Stute und seine Hormone kamen in Wallung. Trieb zur Fortpflanzung, das war alles.

Doch Menschen - so ihre anscheinend irrige Annahme - konnten dieses Bedürfnis kontrollieren und steuern. Sie konnten willkürlich Lust hervorrufen und Sex hatte auch nicht nur den Sinn, sich fortzupflanzen, sondern erzeugte Nähe, sofern man diese wünschte. Was sollte also diese Ausrede heißen?

Sollten sich jetzt Sexualtäter vor Gericht stellen und sagen: „Hey, ich bin nur ein Mann, das müssen Sie verstehen?"

Und dann müssten sie ja dafür freigesprochen werden, obwohl sie sich über den freien Willen eines anderen hinweggesetzt hatten? Weil sie ja „nur" ihrem Trieb gefolgt waren? Sie jedenfalls fühlte sich gerade angegriffen und in ihrer Ehre verletzt. Sie war kein verdammtes Sexualobjekt, verdammte Scheiße nochmal!

Das Internet gab einem nicht das Recht, sich über solche Forderungen hinwegzusetzen, wenn jemand sagte, man möchte damit nicht belästigt werden! Auch da war ein verdammtes Nein, eine Ablehnung! Wäre ihr dieser Kerl im Reallife zu nah gekommen, wäre das sexuelle Nötigung gewesen! Doch im Internet war das Standard??? Man musste es hinnehmen und konnte sich nur gegen solche Angriffe wehren, indem man einen Mann blockierte?

Der dann das gleiche Prozedere mit einer anderen Frau absolvierte, weil es ja keine Konsequenz für ihn hatte, außer dass ein weiteres Single-Weibchen ihm einen Korb gegeben hatte? Wieso hatte man da keine rechtliche Handhabe, wenn man sich belästigt fühlte? So Idioten weckten in Dutzenden Frauen schlechte Gefühle. Es mochte ja sein, dass es auch Frauen gab, die darauf abfuhren, aber ließ das den Schluss zu, dass das auf jede zutraf?

Sie raufte sich die Haare, während sie den Kopf schüttelte und sich von ihrem Sofa erhob. Unruhig tigerte sie in ihrem Wohnzimmer auf und ab und versuchte, Wut und Erschütterung abzuschütteln. Doch immer wieder stieß ihr der Gedanke sauer auf, dass der Kerl wahrscheinlich schon die nächste Frau anschrieb und mit ihr das gleiche machte.

Das war erschreckend! Denn da saß nicht irgendein halbseidener Typ am anderen Ende, der wie in einem dieser früheren Werbespots mit dem Kaninchen auf dem Arm an der Tür klingelte und Unbehagen hervorrief. Sondern es waren ganz normal wirkende Männer, die so agierten. Bedeutete das, dass man niemandem mehr trauen konnte, weil die Anonymität im Internet jeden Kerl zum potentiellen Täter machte?

Das war ein wirklich beängstigender Gedanke und rührte an ihr Sicherheitsgefühl. Und natürlich nährte es ihr Misstrauen. Sicher war nicht jeder Mann so, das wollte sie nicht unterstellen. Aber unterschwellig konnte sie bereits feststellen, dass jedes Tauschen von Nummern sie mit Furcht füllte. Wussten die Männer, die so agierten nicht, was das mit ihren Gegenübern machte oder war es ihnen schlicht egal, weil ja nur noch das eigene Ego befriedigt werden musste?

Sie betrat das Bad und betrachtete sich im Spiegel. Sie hatte ihn nicht mal ermutigt dazu. Wobei das auch wieder so ein komisches Gedankenkonstrukt war, das aber automatisch in ihrem Kopf entstanden war. Selbst, wenn sie ihm auf seine Fragen geantwortet hätte, hätte er ihr „Stopp!" akzeptieren müssen. Immer! Schließlich konnte ein Mensch auch während der Ausführung von sexuellen Handlungen seine Meinung ändern! Wieso also dachte sie gerade so einen Mist?

Ihr Blick senkte sich auf das Waschbecken, das sie in ihrem klinisch-weißen Badezimmer umklammert hielt, weil ihr immer noch leicht flau war. Sie dachte das, weil heute, im Jahre 2022 weiterhin nach dem Beitrag des Opfers gefragt wurde. Hatte es mit dem Täter geflirtet? Hatte sogar Vorangegangenem zugestimmt? Weil immerhin war der Täter ja nur seinem Trieb unterlegen? Das machte alles entschuldbar?

Sie hatte sich gefühlt wie damals. Als ihr Freund aus Jugendzeiten sich über ihren Willen hinweggesetzt und weitergemacht hatte, obwohl es deutlich gewesen war, dass sie keinen Sex mehr mit ihm wollte. Bei jeder weiteren Nachricht war ihr flauer geworden, wie damals bei jeder Regung ihres Ex-Partners. Genauso wie in jener Nacht hatte sie Unglauben geflutet und sie war erstarrt, konnte erst gar nicht reagieren, während Nachricht um Nachricht sie weiter bedrängt hatte. Die Erkenntnis, dass ihr Wille offenbar nichts wert war. Hilflosigkeit über den Kontrollverlust. Ihr Kopf drehte sich gerade, holte die Situation wieder aus der Versenkung.

Wieder ging sie da durch, spürte zitternd am ganzen Leib, wie sie sich damals gefühlt hatte. Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie versuchte, diese Gefühle abzuschütteln. Sie hatte das überlebt. Auch, wenn sie bereute, sich damals zu sehr geschämt zu haben, den Vorfall zur Anzeige zu bringen. Sie hatte wieder gelernt, dass Sex nicht automatisch hieß, sich jemandem auf Gedeih und Verderb auszuliefern. Sondern eine der schönsten Ausdrucksarten war, jemandem zu zeigen, was er einem bedeutete.

Doch jetzt hing sie wieder aus diesem Netz von Gefühlen, die sie befallen hatten. Sie fühlte sich wieder so beschmutzt wie damals, also drehte sie eilends den Wasserhahn auf und wusch sich die Hände mit ihrer Lieblingsseife. Doch die Bilder blieben, genauso wie sein Geruch und die Laute, während er...

„Stopp!", schrie sie ihrem Spiegelbild plötzlich entgegen, als der Geruch der Akazienseife in ihr Bewusstsein drang.

Die Akazie stand für Widerstandskraft und die hatte sie! Sie hatte vielleicht nur begrenzte Macht, auf das Verhalten der Männer einzuwirken, aber sie hatte die Kontrolle darüber, wie sie mit einem solchen Verhalten umging. Sie konnte ihm verwehren, dass er ihre Gefühls- und Gedankenwelt kontrollierte. Das war nicht genug. Nicht für alle, die wahrscheinlich Opfer einer solchen Vorgehensweise im Internet waren. Aber es war richtig für sie. Denn mehr konnte sie leider nicht tun. Sie konnte nur sich selbst schützen.

Und immerhin hatte sie sich aus ihrer Starre lösen können und ihm geschrieben, dass er eigentlich eine Anzeige wegen sexueller Nötigung verdient hätte, weil er ihren Willen ignorierte. Sie war für ihr Bedürfnis eingestanden! Damals hatte sie sich ihrem Schicksal gefügt, doch heute nicht! Sie spürte, wie der Aufruhr in ihr sich beruhigte. Er war nur ein Arschloch und kein Mann. Denn Männer hatten es nicht nötig, sich über den Willen einer Frau hinwegzusetzen. Im Gegenteil, die konnten eine Frau respektieren und sie genau für ihren Willen wertschätzen.

Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now