Der Streit

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"Wie geht's deiner Verrückten?", hörte ich neben mir und drehte mich zu meinem Kumpel Mike um, um ihn anzufunkeln.

"Ich hasse es, wenn du sie so nennst! Sie ist nicht verrückt!", protestierte ich sofort und wollte ihm sein süffisantes Grinsen aus dem Gesicht schütteln.

'Wieso bin ich nochmal mit ihm befreundet? Wieso hab ich ihm überhaupt davon erzählt?', fragte ich mich, während er locker mit den Schultern zuckte und sich neben mich auf einen Stuhl schob und meinte: "Du kannst aber nicht abstreiten, dass sie nicht ganz richtig in der Birne ist."

"Oh, ach so! Und du kannst diesen Anspruch auf dich erheben, ja? Mit deiner Bindungsphobie? Du bist ganz richtig im Kopf? Zeig mir einen, der nicht eine Macke hat, verdammt!", rief ich aus und merkte, dass ich noch wütender wurde, als Mike mich anstarrte, als sei ich verrückt geworden.

"Du willst dieses Dings - das, was deine Freundin hat - wohl kaum mit dem vergleichen, was mich umtreibt, oder? Außerdem, alleine, dass du dich mit so jemandem einlässt, zeugt nicht von gutem Urteilsvermögen!", erwiderte dieser und ich atmete tief ein, um mich zu beruhigen.

"Das ist meine Sache, ok? Das ist eine Störung und niemand kann etwas dafür, wenn man an sowas leidet, verstehst du? Bibi ist mehr als ihre Störung...", versuchte ich zum wiederholten Male zu erklären, unterbrach mich aber, als mein Kumpel auflachte.

"Ja, da hast du Recht! Sie ist mehr. So viel mehr! Sie redet von sich als 'System'! Und verfällt in die wir-Form, wenn sie erzählt. Sie ist so beknackt, sie kann fast kein normales Gespräch führen, weil sie ja viele ist und immer den Faden verliert! Wie kannst du dir sowas antun? Das ist genauso krank wie deine Freundin! Echt jetzt!", rief Mike aus und ich starrte ihn fassungslos an.

Ich merkte, wie ich zu zittern begann, weil rasender Zorn mich erfasste und presste mühsam durch meine Lippen: "Das ist nicht krank! Nicht im wortwörtlichen Sinne! Diese Störung rührt von einem Trauma her, ok? Einem heftigem..."

"Das sie nicht mal benennen kann, weil sie angeblich keine Erinnerung daran hat! Die verarscht dich doch, Andi! Die spielt das, damit du ihr wie ein Schoßhündchen folgst! Und du fällst darauf herein! Sie ist nur auf Aufmerksamkeit aus, das ist alles! Beschützer, Kinder, sogar Tiere, alles in einem 'Host' und das soll man glauben? Andi, wach auf! Das ist nur ein Spiel für sie!", ereiferte sich Mike weiter und ich löste bewusst meine geballten Fäuste.

"Ach ja? Das denkst du? Dass sie nur Aufmerksamkeit möchte, ja? Du hast keine Ahnung! Nicht die Geringste! Das kann man nicht spielen, ok? Du hast sie noch nie erlebt, wenn es ihr schlechtging! Du hast noch nie wahrgenommen, wie schwer es für sie zeitweise ist und wie hart sie dafür arbeitet, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten! Oder den Schein zu wahren, weil genau solche Idioten wie du ihr solche Dinge unterstellen! Wie sehr es sie aus der Bahn geworfen hat, ihrem geliebten Job nicht mehr ausüben zu können oder wie anspruchsvoll ihr Tagesablauf ist! Du machst hier einen auf Obergelehrten, denkst du hast einen Komplettdurchblick und dabei weißt du nicht mal den Bruchteil, womit Bibi sich herumschlägt!", erklärte ich um Geduld bemüht und starrte meinen Kumpel an.

Ich holte tief Luft, ehe ich anfügte: "Weißt du überhaupt, wie viel Mut es sie gekostet hat, offen dazu zu stehen, dass ihr Gehirn anders arbeitet, als deins oder meins? Dass sie sich erklärt und mit genau jenen Vorwürfen jeden Tag befassen muss, die du vorbringst? Das, Mike, ist ebenfalls belastend, ok? Und ich liebe sie. Klar, einfach ist es nicht. Oftmals ist es sogar schwer. Wenn ich sehen muss, wie schlecht es ihr manchmal geht, wie sehr sie manchmal mit sich hadert. Aber ich habe mich in ihr Herz verliebt, egal, ob du das verstehen kannst, oder nicht. Es hat verdammt lange gedauert, bis sie sich mir offenbaren konnte und das sehe ich als riesiges Geschenk. Wenn du dich in jemanden verknallen würdest, der- hm - beispielsweise Krebs hätte, würdest du ihn abschreiben?"

"Krebs ist heilbar, Andi", entgegnete Mike und ich zuckte mit den Schultern.

"Manchmal. Manchmal auch nicht. Darum geht es auch nicht, ok? Ich will dir damit sagen, dass man keinen Einfluss auf manche Dinge hat. Sie hat nicht um diese Störung gebeten, aber sie tut ihr Bestes, um damit ihren Alltag und ihr Leben zu bewältigen. Das verdient, verdammt nochmal, deinen Respekt und keine Verbalattacken", widersprach ich und sah, wie mein Kumpel die Augen verdrehte.

"Du wirst also nicht nachgeben, oder? Sie macht dich glücklich?", fragte er und ich sah ihn lange an.

"Ob du es glaubst oder nicht: Ja, die meiste Zeit bin ich glücklich, so eine starke und mutige Frau an meiner Seite zu haben, deren Alltag um einiges schwerer ist als unserer und die trotzdem nicht aufgibt, sondern versucht, ihr Trauma ans Licht zu holen und zu bearbeiten. Die den validen Personen in ihr Raum zu geben versucht, egal, wie viele Menschen sie dafür verurteilen und belächeln. Manche Dinge sind von Natur aus nicht leicht und diese Beziehung ist es manchmal auch nicht. Aber trotzdem hat sie Liebe, Aufrichtigkeit und Hingabe verdient. Das ist meine Meinung. Die du ja kennst, weil wir das Thema nicht zum ersten Mal durchkauen. Und das macht mich echt wütend, weißt du? Dass andere sich erheben und über jemanden urteilen wollen, weil sie so viel toller sind. Weil sie Glück hatten und in ihrer Kindheit keinem so gravierendem Trauma ausgesetzt waren und sie sich zu einer Persönlichkeit entwickeln konnten. Bibi hatte dieses Glück offenbar nicht und trotzdem hat sie wie durch ein Wunder überlebt. Es ist ein Überlebensmechanismus, den man nicht steuern kann. Man muss nur im Nachhinein damit Leben. Ich wäre froh, wenn du das endlich akzeptieren könntest", sagte ich matt und warf meinem Kumpel einen Seitenblick zu, der den Blick auf seine Hände gesenkt hatte.

"Ich kanns einfach nicht verstehen", gab Mike zu und ich nickte.

"Das ging mir anfangs auch so. Aber dann hab ich mich eingelesen, Dokus geschaut und mit Bibi darüber geredet. Sie will kein Mitleid. Sie will nur so anerkannt werden, wie sie ist. In ihrer Gesamtheit. Und ganz ehrlich? Wer möchte das nicht? Jeder möchte so akzeptiert und wertgeschätzt werden, wie sie oder er ist. Das ist die Gemeinsamkeit, die uns alle zu Menschen macht, Mike. Können wir jetzt das Thema lassen? Denn eigentlich hab ich dich aus einem bestimmten Grund gebeten, dich hier mit mir zu treffen...", erklärte ich und sah, wie Interesse in den Augen meines Kumpels aufleuchtete.

"Der wäre?", erkundigte dieser sich und ich fragte mich, ob ich jetzt den Mut dafür aufbrachte, mein Anliegen überhaupt vorzubringen.

Ich schluckte nochmal hart, atmete tief durch und erklärte: "Ich hab Bibi gefragt, ob sie mich heiraten wollen. Ich wollte dich fragen, ob du mein Trauzeuge wirst. Obwohl ich mir die Antwort schon denken kann."

"Heiraten? Echt jetzt?", fragte Mike und sah mich fragend an, also nickte ich nur und wartete auf die Einsprüche.

Doch dann riss ich überrascht die Augen auf, als mein Kumpel sagte: "Na, dann. Bin ich wohl Trauzeuge. Du wirst dir das schon überlegt haben."

"Hab ich", versicherte ich und mein Kumpel nickte, ehe er die Hand hob und uns nochmal ein Bier bestellte.

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now