Nie genug

6 3 0
                                    

Der Wunsch nach mehr füllte ihn, wie jeden Tag. Es war nie genug, egal, wie weit er kam. So war er schon immer gewesen. Als Kind belächelt, weil er aus dem ärmsten Viertel kam und seine Eltern ihm nicht geben konnten, was er gebraucht hätte. Sie hatten sich ihrem Schicksal gefügt, die Gesellschaft für ihr Versagen verantwortlich gemacht, während sie ihren Frust an ihm ausgelassen hatten.

Sie hatten ihn nicht gebrochen, eher beflügelt, darum hatte er ihnen verziehen. Denn er hatte schon als Kind gewusst, dass er es rausschaffen würde, wenn seine Eltern total zugedröhnt oder besoffen im Wohnzimmer kampiert hatten. Da hatte er schon begriffen, dass er nicht so enden wollte. Stattdessen wollte er etwas aus sich machen, das war immer sein Bestreben gewesen, egal, wie oft seine Eltern deswegen gegackert hatten, er wäre genauso Dreck wie sie und daran könne er nichts ändern.

Er entspannte bewusst seine geballten Fäuste, während die Stimmen seiner Eltern genauso durch seine Gedanken hallten, wie ihre Gesichter. Obwohl er ihnen dankbar war, dass sie ihm diese Erkenntnis geschenkt hatte, stahl sich immer ein bitterer Geschmack in seinen Mund. Sie hatten keine Relevanz mehr, immerhin lagen sie schon lange auf dem Friedhof. Doch er war noch da, sagte er sich und richtete den Blick wieder nach vorne, während er einen Schritt an den nächsten reihte.

Er hatte nie aufgegeben, sondern sich in der Schule reingekniet und den Stoff in sich aufgesaugt. Wenn Schulschluss gewesen war, war er in die Bücherei getingelt und hatte seinen Kopf weiter mit Wissen gefüttert. Schon damals hatte ihn der Wunsch gefüllt, sich nicht dem zu ergeben, was seine Eltern ihm vorlebten.

Er hatte sich festgebissen an der Gewissheit, dass er mehr erreichen konnte, egal, woher er kam. Einerlei, wie oft sie ihm entgegengeschleudert hatte, er brauche sich nicht wie etwas besseres fühlen und ihn mit sämtlichen Gegenständen verprügelt hatten, die sie gefunden hatten. Weil er es gewagt hatte, sie zu berichtigen, wenn sie wieder behauptet hatten, ihnen seien die Flügel gestutzt worden.

Sie wären von der Gesellschaft zu Maden erklärt worden, erinnerte er sich kopfschüttelnd, ehe ein leichtes Lächeln auf seine Gesichtszüge flog und er sich daran entsann, wie er für sich beschlossen hatte, dass er keine Made, sondern eine Raupe war. Fähig sich zu verpuppen und neugeboren zu werden. Gut, er würde sich jetzt nicht Schmetterling nennen, dachte er grinsend bei der Vorstellung. Er hielt sich lieber an den Begriff Phönix. Dessen Leben endete auch in Schall und Rauch, ehe er laut diverser Sagen, Fabeln und Märchen wiedergeboren wurde.

Er hatte hart dafür gearbeitet, dass er sich wie dieser mystische Vogel immer wieder mauserte und immer wieder einen Schritt vorwärts ging. Immer mehr. Er hatte noch nicht genug. Sein Hunger, sich zu beweisen, war ungebrochen, obwohl er wusste, es war längst nicht mehr nötig. Doch es war ein tiefes Bedürfnis, er brauchte diesen Einfluss. Alles andere war keine Option - war es nie gewesen.

Dem hatte er immer alles untergeordnet. 2 Ex-Frauen sprachen dahingehend eine deutliche Sprache, so erfolgreich er beruflich auch geworden war, im partnerschaftlichen Bereich seines Lebens war es ihm nicht gelungen. Wie immer, wenn er daran dachte, schnürte sich kurz seine Kehle zu. Es gab Momente in seinem Leben, da fühlte er sich einsam, hätte gerne jemanden, der sich mit ihm über diese Erfolge erfreuen konnte wie er.

Seine zweite Frau hatte ihn „getrieben" genannt und sie hatte recht damit. Er war ein Getriebener, Stillstand war für ihn der Tod. Man konnte so schnell verlieren, wofür man gearbeitet hatte, auch das hatte er schon erlebt. Das war eine finstere Phase seines Lebens gewesen, dachte er und wie damals fingen seine Hände zu zittern an, als er sich an Amelie erinnerte.

Er war, wie er war und niemand wird das je ändern können, erkannte er und lauschte dem Song, der schon den ganzen Lauf in seinen Ohren hallte. Auch diesmal würde die Siegprämie an die Stiftung für misshandelte Kinder gehen. Er sah so viele von ihnen, wenn er seiner Arbeit bei der Polizei nachging. Er wurde oft an ihrem schlimmsten Tag im Leben hinzugezogen. Oft sah er sich selbst in ihnen und das trieb ihn noch mehr an. Sie sollten auch die Chance haben, wie Ikarus zur Sonne zu fliegen - ohne, dass ihre Flügel verbrannten und sie in die Tiefe fielen. Nicht so wie Amelie.

Er durchlief die die Ziellinie und plötzlich merkte er, wie seine Lunge brannte und seine Muskeln protestierten. Die vielen Gesichter der Kinder, die ihm in seinem Hauptjob begegneten, ließen ihn diese Tatsachen immer wieder vergessen. Er würde immer seinen kleinen Beitrag dazu leisten, damit sie sich ebenfalls verpuppen konnten.

Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now