Erinnerungen

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"Weißt du noch?", sagte er und sie nickte nur, als er auf ein Foto deutete.

Es zeigte zwei Menschen, die sich im Arm hielten und sie versuchte sich klarzumachen, wer diese Personen waren. Es war ihr entfallen. Es fiel ihr jeden Moment wieder ein. Bestimmt. Sie fixierte die zwei auf dem Bild und kramte in ihrem Gedächtnis. So schwer konnte das doch nicht sein. Ein Buchstabe hallte durch ihren Kopf und sie hielt ihn fest.

"M...", sagte sie und er lächelte.

"Ja, genau. Marlene und Bastian. Bei ihrer Hochzeit. Alle haben das Brautkleid bewundert, aber für mich gab es eine schönere Frau im Raum", erklärte er und sie sah in graue Augen und lächelte.

"Ja."

"Weißt du noch was du anhattest?", erkundigte er sich und ihr Lächeln verschwand, während sie sich mühte, die Bruchstücke in ihrem Kopf zu einem Ganzen zu fügen.

"Ein Kleid. Helles Rosa", riet sie und merkte an seiner Reaktion, dass es falsch gewesen war, also schob sie nach: "Lila. Helles Lila."

"Flieder, ja. Das hast du mir immer wieder gesagt, wenn ich dich aufgezogen habe, dass Lila der letzte Versuch ist. Da hast du gesagt, das Kleid sei nicht lila, sondern fliederfarben", erzählte er und sie versuchte den Erinnerungsfetzen festzuhalten, der durch ihren Kopf flitzte.

"Richtig. Du hattest einen Anzug an. Du hast gut ausgesehen", stellte sie fest, als sein Bild im Anzug in ihren Gedanken aufzuckte.

Sie hielt es krampfhaft fest, versuchte sich an den Tag zu erinnern, aber es ging zu schnell. Sie war zu langsam. Sie flogen vorbei und sie konnte nichts greifen. Das altbekannte Gefühl machte sich in ihr breit: Sie stand in einem Raum und um sie herum tanzten Fetzen von Erinnerungen. Sie versuchte sie zu erhaschen, doch sie glitten ihr aus den Händen oder waren zu schnell, als dass sie diese überhaupt greifen konnte. Nur die langsamen konnte sie einfangen. Das waren aber nicht so viele. Das Puzzle war so groß und sie fand kaum Teile. Das Puzzle ihres Lebens. Sie versuchten es zusammenzusetzen. Aber es war schwer.

Mit halbem Ohr lauschte sie seinen Erklärungen und fragte sich, wer nochmal neben ihr saß. Irgendwas in ihr sagte ihr, dass sie den Mann kannte. Ihn sogar mochte. Das musste so sein, denn er hatte die Finger mit ihren verschlungen. Da glänzten Ringe an dem Finger neben dem kleinsten. Sie sahen ähnlich aus. Das musste eine Bedeutung haben, auch wenn sie sich gerade nicht erinnern konnte, welche. Trauer erfüllte sie, weil sie das Gefühl hatte, es war wichtig zu wissen, wer neben ihr saß. Aber sie konnte sich nicht erinnern.

Sie war irgendwie krank jetzt. Zumindest sagten ihr das die Menschen in den weißen Kitteln, die vorbeikamen und sie fragten, wie es ihr ging. Dann sahen diese Weißkittel sie an und sie versuchte zu lächeln und erklärte, es ging ihr gut. Aber so gut ging es ihr nicht. Denn die sagten ja, sie war krank. Aber Schmerzen hatte sie nicht. Manchmal hatte sie Kopfschmerzen. Weil sie versuchte herauszufinden, wer sie war. Wenn sie in den Spiegel sah und überlegte, wie alt sie war oder wie ihr Name ist. Manchmal wusste sie ihn. Für ein paar Bruchteile einer Minute.

Aber meistens stand sie vor diesem Ding aus dem Wasser kam, wenn man einen Hebel hochdrückte... Waschbecken. Genau. So hieß das. Meistens stand sie vor dem Waschbecken und starrte in die Fläche darüber und in die blauen Augen, die ihr entgegensahen und sie fragte sich, wer sie war. Ihr Name fing mit einem C an. Carola? Christine? Christina? Oder war es ein K? Nein, es war ein C. Das stand auf dem Zettel, auf dem sie ihr Kreuzchen machen sollte, was sie Essen wollte. Sie versuchte sich zu erinnern, was nach dem C kam. Co. Cor. Corin.

"Corinna, hast du Durst?", fragte der Mann neben ihr und sie schaute ihn verwirrt an.

"Corinna. Ist das mein Name?", fragte sie zurück und sah, wie seine Augen einen traurigen Ausdruck annahmen.

"Ja, Liebling, das ist dein Name", erwiderte er kaum hörbar und sie nickte.

"Und du bist?", erkundigte sie sich und seine Augen wurden noch einen Ticken bekümmerter.

"Sven. Ich heiße Sven."

"Sven. Ja, genau. Weiß ich doch", sagte sie, weil es ihr leidtat, wie traurig er aussah.

"Hast du mich gekannt? Weißt du, wer ich bin?", fragte sie trotzdem und sah, wie sich eine Träne aus seinem Augenwinkel stahl.

"Ja, ich weiß, wer du bist, Corinna. Klappt es heute nicht?", erwiderte er mit rauer Stimme und sie schüttelte automatisch den Kopf.

"Klappt es überhaupt?"

"Ja, Liebling. Manchmal klappt es. Das ist gut. Es soll besser werden, sagen die Ärzte. Wenn dein Hirn die neuronalen Verbindungen ersetzt, die dein Schlaganfall zerstört hat, deswegen gucken wir uns die Fotos an", stellte er fest und sie wusste nicht, wovon er sprach.

"Ärzte sind Weißkittel?", fragte sie und er nickte.

"Ja. Ärzte sind Weißkittel."

"Erzählst du mir von mir? Und von dir? Ich muss dich gemocht haben. Wir haben Ringe an den Fingern. Das hat eine Bedeutung. Sie fällt mir nicht ein. Heute nicht. Geht das wieder weg?", fragte sie leise und er sah sie lange an.

Dann schüttelte er den Kopf und flüsterte: "Ganz geht es nicht mehr weg. Aber wir können versuchen, den Gedächtnisverlust einzudämmen."

"Ok. Ich will wissen, wer du bist. Welche Bedeutung diese Ringe haben und warum du da bist. Und wer ich bin. Was ist das in dem komischen Ding?", fragte sie und jetzt drang ein Schluchzen aus seiner Kehle.

"Das ist unser Baby, Corinna. Unsere Tochter und sie liegt im Kinderwagen", erklärte er und sie nickte.

"Dann will ich auch unsere Tochter kennenlernen", entschied sie und er drückte sie an sich.

"Ich wünschte, ich könnte dir von meinen Erinnerungen ein paar abgeben", wisperte er und sie traute sich, den Kopf auf seine Schulter legen.

"Ich weiß gerade nicht viel. Aber ich weiß, dass das nicht geht", flüsterte sie zurück und jetzt weinte auch sie.

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now