Wenn Gedanken Flügel wachsen...

Anpirschen

Er reckte die Arme in die Luft und schloss die Augen, während der Bass ihn gefangen nahm und seine Füße automatisch auf der engen Tanzfläche bewegte. Sein Shirt klebte genauso wie seine enge Jeans an ihm, denn er war schon total durchgeschwitzt. Aber es war ihm völlig egal. Heute interessierte das einfach nicht. Er war schon viel zu lange nicht mehr feiern gegangen.

Immer bestimmten andere den Rhythmus seines Lebens, darum hatte er sich auf einen Abend gefreut, wo er einfach mal abschalten wollte. Wieso auch nicht? Es wartete schließlich niemand auf ihn in der kleinen, aber feinen Zweiraum-Wohnung, die er sich mit seinem Kater Lucius teilte. Und der würde ihm sicher verzeihen, dass er heute einfach mal was anderes sehen wollte, als seine Bücher oder seinen Nebenjob.

Ihm war echt die Decke auf den Kopf gefallen und deswegen hatte er sich heute Vormittag kurzfristig entschieden, die Einladung seiner besten Freundin Sibylle anzunehmen, mal wieder richtig abzuhotten. Was sie gefühlt schon seit Stunden taten, aber er hatte noch lange nicht genug. Er öffnete die Augenlider wieder, als ihn etwas antippte und schaute in die blaugrünen Iriden von Sib, die in den blitzenden bunten Lichter noch mehr funkelten. Auch bunte Lichtreflexe tanzten in ihrem sonst weißblondem Haar, während sie ihn breit angrinste und mit funkelnden Augen irgendwas brüllte, was er durch die laute Musik nicht verstehen konnte.

Er signalisierte ihr mit einem Stirnrunzeln und einem Schulterzucken, dass er sie nicht verstanden hatte und wollte sich wieder in die Musik vertiefen, als sie mit den Augen rollte und in Richtung der Bar deutete, die nur ein paar Meter von dem Rand der Tanzfläche war, an dem sie sich befanden. Er ließ den Blick uninteressiert dorthin gleiten und der blieb an einem Kerl kleben, der ihn fixierte.

Automatisch checkte er ihn aus und schürzte die Lippen. Lecker. Sportlich angezogen, normale Figur, dunkles Haar, schwarze Augen und ein Dreitagebart um den vollen Mund, in dem Gesicht mit kantigem Kinn. Wie ein heißer Seeräuber oder so. Fehlte nur noch der Säbel, dachte er und hielt dem Blick des Fremden stand, während ein Lächeln seine Mundwinkel anhob.

Oh. Seine Mundwinkel taten das Gleiche! Interessant! Sein Grinsen vertiefte sich noch, während er die Augenbrauen hochzog und sich wieder abwandte. Mal sehen, ob der heiße Seeräuber die Einladung verstanden hatte. Sib funkelte ihn jedenfalls amüsiert an und ihre Augenbrauen zuckten neckisch zweimal hoch. Er lächelte nur und zuckte mit den Schultern.

Aber er musste zugeben, dass der Blickkontakt mit „Mister Pirate" sofort einen wohligen Schauer übers Rückgrat geschickt hatte. Er war leider auch viel zu oft allein in seinem Bett im Moment. Aber das war ein Umstand, den er heute ja ändern konnte. Er mochte Abenteuer, sofern er nicht vergeben war, und der Seeräuber war definitiv eine Sünde wert.

Während er sich weiter zur Musik bewegte, wanderte sein Blick wieder zu dem Fremden, der ihn weiter zu beobachten schien, während er einen Schluck aus seiner Becks Flasche nahm und ihm dann zuprostete. Dafür bekam er wieder ein Lächeln geschenkt und als dem sexy Seeräuber kurz die Mimik entglitt, grinste er breit und zwinkerte ihm zu.

Das begann immer mehr Spaß zu machen, weil jetzt der Kerl an der Bar strahlte. Das machte echt Laune, dachte er und schloss wieder die Augen. Seine Beine bewegten sich wie allein und er genoss es einfach - der Abend war jetzt schon perfekt. Noch mehr jetzt wegen „Mister Pirate", weil der offenbar auf seine Flirtversuche einging. Apropos, Seeräuber. Hatte er seinen Jagdtrieb geweckt?

Er schielte an die Stelle, wo er saß - und fand den Barhocker leer vor. Irritiert starrte er auf den Fleck an der Bar und schluckte. Hatte er mit dem Zwinkern übertrieben? Er war wohl aus der Übung? Denn sonst würde der Kerl ihn immer noch so fixieren, als wäre er die köstlichste Süßigkeit, die es zu bestaunen gab. Er merkte, wie er an der Innenseite seiner Wange herumbiss und versuchte, die Enttäuschung abzuschütteln. Vielleicht hatte der Kerl gar nicht ihn gemeint? Immerhin war die Tanzfläche brechend voll und...

Plötzlich legten sich Arme um seine Mitte und er runzelte die Stirn, während er sich herumdrehte. Da war er wieder: Der sexy Seeräuber und schmunzelte ihn verschmitzt an, ehe seine Schritte sich seinen anpassten. Fuck, er sah nicht nur gut aus, er roch auch so. Und er konnte tanzen, verdammt! Er merkte, wie sich sein Blick mit dem des Fremden verhakte und wie der Bass seinen Herzschlag widerspiegelte. Wirklich genau sein Typ.

Seine Augen wanderten automatisch zum Mund seines Gegenübers, während sein Kopfkino ansprang: Was er wohl so alles damit anstellen konnte? Er biss sich auf seine Unterlippe und ließ den Blick wieder zu seinen Augen huschen. Nur, um festzustellen, dass der ganz genau wusste, woran er gedacht hatte. Oh, no! Musste er ausgerechnet jetzt rote Ohren bekommen?! Das war Beschiss! Er hasste das, das ließ immer wie einen unerfahrenen Jüngling wirken!

Doch dann leckte sich „Mister Pirate" über die Lippen und ihm fiel die Klappe herunter. Aber wenigstens nur kurz. Vielleicht eine Millisekunde. Er schluckte trocken und erschauerte, als er bemerkte, dass sich Hunger in dessen Blick geschlichen hatte. Definitiv würde er heute nicht allein bleiben, so viel war sicher. Und wenn sie sich am Morgen danach noch ansehen konnten, konnten sie vielleicht öfter tanzen gehen. Wer wusste das schon? Aber jetzt für den Moment war das Kribbeln in seinem Bauch zusammen mit der Musik alles, was er brauchte...

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