Der ganz normale Wahnsinn

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'Ich muss jetzt noch in die Buchhandlung und zum Weinhändler und zum Feinkostladen, oder bekomme ich den Wein für Tante Helga nicht auch dort? Aber sollte ich nicht vielleicht zuerst zum Feinkostladen und anschließend erst zum Weinhändler, damit ich nicht einen überflüssigen Weg habe? Denn danach muss ich weiter zur Arbeit, nach der Arbeit zum Einkaufen, dann Melanie vom Ballett abholen und Ben anschließend vom Fußballtraining. Dann heim, kochen, Wäsche machen, Hausaufgaben kontrollieren und das ganz normale Programm...', dachte sie und schob sich durch das dichte Gedränge in der Fußgängerzone.

Ihr war jetzt schon schwummrig, wenn sie daran erinnerte, was sie noch alles zu erledigen hatte, bevor die Lichter am Christbaum leuchteten und das schiefe „Oh Tannenbaum" ertönte, indessen Melanie sie bemüht würdevoll und völlig schräg auf ihrer Flöte begleitete.

So war Weihnachten eben, oder? Ein Fest der Ruhe, der Liebe und der inneren Einkehr. Nur meistens fühlte sich das in den Wochen zuvor gar nicht danach an. Da hetzte man von Pontius zu Pilatus, während die Kinder in der Schule nochmal richtig getrimmt und mit Lernzielkontrollen überhäuft wurden, auf die man sie natürlich auch angemessen vorbereiten musste. Nebenbei sollte man gute und schmackhafte Plätzchen auf Vorrat haben, den Christstollen ebenfalls, auf dem Herd sollte stets und ständig Kinderpunsch und Glühwein simmern, um die Adventsstimmung perfekt zu machen. Immerhin war das Haus dann bereits festlich geschmückt und der Adventskranz warf sein Licht der Hoffnung durch das abgedunkelte Wohnzimmer, das nach Orangen und Zimt und Lebkuchen roch, die selbstverständlich auch selbstgebacken waren. Richtig?

Nun, dann war sie von diesem Ziel noch weit entfernt. Weihnachtsstimmung überfiel sie meist erst, falls sie Weihnachten hinter sich gebracht hatte. Wenn alle ihre Gäste zufrieden und vollgefressen von der Gans auf dem Sofa herumlümmelten, an ihren Weingläsern nippten und die Kinder beim Spielen, Streiten oder Balgen beobachteten. Dann kam sie in Stimmung. Vorher hatte sie keine Zeit für geruhsame Abende, an denen sie Strohsterne bastelte, geschweige denn ein Plätzchenblech nach dem nächsten in den Ofen schob. Während sie die Fertigen kunstvoll dekorierte, so wie es in der Werbung und den Hochglanzzeitschriften zu sehen war. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte sich klonen, jedem ihrer Abbilder eine Aufgabe zuweisen und sie abends, vorm Spiegel im Bad wieder einsammeln, bevor sie sich die Zähne geputzt und im Bett verschwunden war. Aber das ging nun einmal nicht. Niemand konnte sich klonen und alle anderen schienen das mühelos zu meistern. Ob die alles im Internet bestellten? Da war ihr Mann ja dagegen. Er hatte schon Recht, wenn er sagte, die ganzen Pakete würden einen negativen CO2-Abdruck auf der Erde hinterlassen und überhaupt müsste man den regionalen Handel stärken.

Aber im Ernst: Was tat er denn gerade? Er saß an seinem Schreibtisch und tippte oder saß bei einem Meeting. Abends, wenn er nach Hause kam, stand das Essen bereit, die Hausaufgaben waren kontrolliert und die Kinder waren schon zwischen Tür und Angel abgefragt, während sie noch überlegte, was sie auf dem Zettel für morgen hatte. Er setzte sich an den gedeckten Tisch und freute sich auf den Feierabend. Er spielte mit den Kindern, bis es Zeit war, für diese ins Bett zu gehen. Feierabend kannte sie in der Weihnachtszeit noch weniger. Denn na ja, sie wollte das, was alle hatten: Glückliche, zufriedene Kinder, die gut in der Schule waren und die sich selbstgemachte Plätzchen schmecken ließen. Auch, wenn die nicht so kunstvoll dekoriert waren, wie jene, die sie überall auf Plakaten und Kochzeitschriften zu sehen bekamen. Sie wollte, dass die Kinder sich an dem Zauber der Weihnacht erfreuen konnten.

Plötzlich erstarrte sie. Sie ignorierte die pikierten Blicke, das genervte Gemurmel und das Anrempeln der anderen Passanten. Sie konnte das nicht. Sie wusste jetzt schon nicht mehr, wo ihr der Kopf stand und sie hatte es satt, jeden Morgen wie ein Zombie aus dem Bett zu krabbeln. Dann kurz ins Bad, wo ihr ein blasses Gesicht mit tiefen Augenringen aus dem Spiegel entgegensah, die man nur noch mit einer dicken Schicht Schminke kaschieren konnte. Denn frau musste ja auch immer perfekt aussehen, richtig?

Sie schüttelte automatisch den Kopf. Musste sie nicht. Sie musste gar nichts. Außer ihre Kinder glücklich machen. Und denen war es höchstwahrscheinlich egal, ob sie die Plätzchen kaufte, weil ihr die Zeit ausgegangen war oder ob das Haus nach Zimt, Orangen und Lebkuchen duftete. Die wollten wahrscheinlich nur, dass sie nicht jeden Abend wie ausgespuckt auf dem Stuhl beim Abendessen saß und in Gedanken ihre To-Do-Listen durchging. Die wollten womöglich nur mit ihr Lachen und Spaß haben, neben den ganzem Alltagswahnsinn, der auch ohne Weihnachten die Regel war.

Sie merkte, wie sie Erleichterung flutete, als diese Erkenntnis langsam in ihr Bewusstsein sickerte. Sie würde jetzt einen Kaffee trinken gehen. Und ein großes Stück Kuchen essen. Dann gemütlich in die Arbeit spazieren, um dann entspannt erst Melanie und dann Ben abzuholen. Heute würde sie weder Einkaufen, noch Kochen. Sollte ihr Mann, wenn er vom Büro nach Hause fuhr, etwas beim Chinesen mitnehmen. Oder beim Griechen. Oder Italiener. Eigentlich war es ihr völlig egal, woher ihr Abendessen heute stammen würde. Hauptsache war, sie musste es nicht zubereiten.

Sie schlenderte ins Café, bestellte sich einen großen Latte sowie ein riesiges Stück Mango-Torte und lächelte, als ihre Bestellung kam. Wieso machte sie sowas eigentlich nicht öfter? Warum gönnte sie sich so etwas nicht? Weil es ihrem Ansehen schaden könnte, gab sie zu und verdrehte innerlich die Augen. Das war doch egal. Eigentlich. Wem wollte sie gerecht werden? Den anderen? Oder ihrer Familie und sich?

Ihr Mann fragte sie ohnehin bereits seit einer Weile, ob sie nicht etwas kürzertreten wolle. Sie müsse nicht immer alles perfekt machen, hatte er ihr erklärt. Sie wäre schließlich auch nur ein Mensch und hätte nur zwei Arme. Er hatte ihr sogar offenbart, dass er es einerseits bewundere, wie sie alles unter einen Hut bekam, aber andererseits fehle ihm die Frau, mit der er abends noch ein Glas Wein trinken und über Gott und die Welt quatschen könne. Die nicht nur immer einsilbig mit einem "Hm" antworte, weil sie mit ihrem Kopf ganz woanders war und diese wenigen Stunden der Zweisamkeit wie Pflichttermine absolviere. Das hatte sie getroffen, wenn sie ehrlich war. Aber ganz Unrecht hatte er nicht damit.

Sie seufzte und nahm ihr Telefon zur Hand. Sie öffnete WhatsApp und ging in die Gruppe, wo die Wünsche fürs Weihnachtsessen schon seit Wochen aufploppten. Denn na ja, wie es so war: Der Eine vertrug plötzlich keine Laktose mehr, der Andere wollte keine Semmelknödel, die Nächste bevorzugte Weiß- statt Rotwein und das Fleisch musste durch sein. Wieder eine Andere wollte es aber noch rosa, damit es nicht trocken wurde. Sie las all diese Nachrichten und schüttelte den Kopf. Wollte sie sich weiter diesem Stress aussetzen?

"Nein", murmelte sie und tippte: "Hallo ihr alle. Ich habe mir für dieses Jahr etwas ganz besonderes überlegt: Jeder bringt mit, was er mag. Wir machen ein Buffet und jeder kann von allem essen und trinken. Sind besondere Getränkewünsche vorhanden, die über das hinausgehen, was man gewöhnlich vorrätig hat, bringt euch bitte auch das mit. Denn dieses Jahr möchte ICH nicht völlig erschlagen ins Bett fallen, sondern Weihnachten genießen. Mit euch. Meinen Liebsten. Als Familie. Ohne Stress. Ok?"

Sie starrte auf die Nachricht und merkte, wie ihr Puls in die Höhe schoss. Was, wenn jetzt alle total sauer reagierten? Hatte sie sich jetzt gerade zum Gespött gemacht? Wieso antworteten sie nicht? Sie legte ihr Telefon beiseite und nahm nochmal einen Schluck ihres Lattes, der plötzlich irgendwie weniger aromatisch schmeckte und vergrub ihr Gesicht hinter ihrer Hand. Sie würde ihnen jetzt sofort schreiben, dass es ein Scherz war, dachte sie und hörte das Pling.

"Ok. Alles klar. Ich bringe meinen weltberühmten Kartoffelsalat mit, dazu mache ich noch Würstchen im Schlafrock. Ich hab auch noch Plätzchen übrig. Die sind mir dieses Jahr echt gut gelungen", las sie und ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel.

"Oh, lecker! Ich hab noch Christstollen und mache eine leckere Käseplatte - laktosefrei, damit alle sie genießen können...", stand da als nächstes und ihre Mundwinkel hoben sich noch mehr.

"Perfekt! Wir haben gerade eine Bestellung bei einem neuen Winzer getätigt. Was haltet ihr davon, wenn wir so eine Art Weinprobe machen 😜", blinkte auf ihrem Display und sie musste grinsen.

"Klar! Ich weiß noch nicht, was ich mitbringe, aber es wird lecker. So viel verspreche ich euch", kam als nächstes und sie kicherte.

"Ich freu mich jetzt noch mehr auf Weihnachten. Endlich einmal Weihnachten mit meiner Frau", erklärte ihr Mann in der nächsten Nachricht und sie fing lauthals zu lachen an.

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now