Ein Ausblick

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Still saß sie auf ihrem Platz auf der Terrasse ihrer besten Freundin und schaute auf den liebevoll angelegten Garten hinunter, in dem die Herbstblüher nochmal Farbe ins Grün tüpfelten und das Geschrei der spielenden Kinder drang zu ihnen.

Doch sie konnte sich ausnahmsweise nicht daran erfreuen. Denn bei Tisch hatte sich eine leidenschaftliche Diskussion entfacht über alles, was im Moment so schief lief in Deutschland. Angefangen von der Corona-Debatte, die ihr echt schon zum Hals raushing, gefolgt von der Feststellung, dass sich die Politiker nicht mit Ruhm bekleckerten, wie sie mit der Inflation umgingen und welche Auswirkungen diese auf den einzelnen Beteiligten hatte.

Sie hatte sich so darauf gefreut, die Sorgen mal einen Abend beiseiteschieben zu können. Stattdessen lauschte sie den Aussagen der anderen und versank wieder einmal in ihren eigenen Existenzängsten. Egal, mit wem man sprach, jeder war verunsichert und hatte Bammel. Das gehörte fast schon zum guten Ton, seit die Verwicklungen eines Virus' vor knapp 3 Jahren begonnen hatten und bereits vielen Menschen die Existenz gekostet hatte.

Nicht nur, weil der Virus selbst potentiell lebensgefährlich war, sondern damit auch starke finanzielle Einbußen einhergegangen waren. Die Schließungen hatte vielen Selbstständigen die Geschäfte gekostet und viele hatten Kurzarbeitergeld akzeptieren müssen oder hatten ihre Jobs ganz verloren. Dazu war in Familien auch das Privatleben zerbrochen. Eltern hatten sich mit Kindern zerstritten, Freunde hatten sich bei der Impffrage entzweit und die Heilung setzte erst allmählich ein.

Zumindest waren sich in der Frage, wie beängstigend die Zukunft war, alle einig. Nur wie sollte man nun damit umgehen? Auf die Straße gehen, wo eine friedliche Demonstration wie kürzlich in München von Scharfschützen und SEK im Auge behalten wurde? Weil ja jeder, der sich traute, seinem Unmut so Zeugnis zu verleihen, gleichzeitig ein Volksverhetzer und potentieller Feind der Demokratie war?

Stillhalten und hoffen, dass sich nicht bewahrheitete, was sich schon abzeichnete? Dass Menschen ums nackte Überleben kämpften, weil Wohnung und Lebenshaltung fast unbezahlbar wurden, da die Löhne gleichblieben und Rentner oder andere Staatshilfe-Empfänger ausgeschlossen wurden von Hilfspaketen, die ohnehin auch wieder der Steuerzahler löhnte? Wo jede Anschaffung von Winterkleidung oder Schuhen für die Kinder ein großes Dilemma auslöste, weil man kaum mehr um die Runden kam, ohne sich schon für Kleinigkeiten zu verschulden?

Oder sollte man nur aus Protest eine Partei aus reiner Verzweiflung wählen, die sich die Ängste der Bürger zunutze machte und genau das predigte, was die Bevölkerung beschwichtigte? Obwohl im Grunde klar war, dass diese auch nicht im Sinne des Volkes handeln würde? Wo waren sie falsch abgebogen, dass sie nun in der Situation waren, in der jedermann und jede Frau feststeckte?

Sie unterdrückte ein Seufzen. Es war unnütz darüber nachzudenken, wie es so weit hatte kommen können. Aber genauso rauchte ihr der Kopf, wenn sie die Alternativen abwog, die sie zu haben schien. Während die Stimmen der anderen Erwachsenen immer leidenschaftlicher wurden, zog sich ihr Herz weiter zusammen.

Wie lange würden die Kinder wohl noch so ausgelassen spielen können, ohne dass sie ahnten, dass ihre Unbeschwertheit vielleicht schneller enden könnte als erwartet? Sie hatten doch schon so viel ertragen in den letzten Jahren. Die Aussagen, dass es spurlos an ihnen vorbeigegangen war, waren schlicht falsch. Erst jetzt blühten sie wieder etwas auf und jetzt sollten sie spüren, wie sich Armut oder Wetteifern um den besten Preis für Lebensmittel und Sprit anfühlte?

Sollten auf das Eis verzichten oder den Lieblingsjoghurt, weil der in der Summe den Unterschied machen konnte, zwischen „das Geld reicht bis zum Ende des Monats" und „wir sind pleite"? Bereits jetzt sah sie viel zu oft in das enttäuschte Gesicht eines ihrer Kinder, wenn sie einen Wunsch ablehnen musste, auch wenn es nur ein kleiner war. Doch wenn die Bevölkerung nicht mehr einkaufen konnte, würden weitere Stellen gestrichen werden müssen oder zusätzlich die Preise angehoben werden müssen, um die Arbeitsplätze zu erhalten.

Es war ein Teufelskreis und so sehr sie darüber nachdachte, sie kam auf keine Idee, wie sich nochmal alles drehen könnte. Sie schloss die Augen und versuchte, ihren Optimismus zurückzuerlangen. Es war bisher immer gegangen. Sie würde auch weiterhin Wege finden, ihren Kindern ein so unbeschwertes Leben wie möglich zu schenken. Genauso wie sie immer wieder Ideen haben würde, wie sie das Überleben im kommenden Monat sichern konnte.

Sie hatte das schon mal geschafft, allerdings war sie da noch ohne Nachwuchs gewesen. Dennoch, es war ihr ja nicht fremd. Zumindest nicht alles. Es gab weiterhin viele Unwägbarkeiten, doch das bedeutete wohl das Leben. Sie hatte Glück, sie waren gesund und munter. Sie war schon so weit gekommen, sie würde jetzt nicht nachlassen. Plötzlich drang der leise Gesang der Grillen zu ihr und sie konnte die Stimmung etwas abschütteln. Nicht komplett, aber etwas.

„Willst du gar nichts dazu sagen?", erkundigte sich ihre Freundin und sie schüttelte den Kopf.

Doch dann besann sie sich anders und sagte: „Ich mach mir auch Gedanken. Ich kann eure Ängste verstehen. Doch Jammern hilft auch nichts. Es nutzt auch nichts, sich von Furcht das zu vergällen, was schön ist. Morgen ist es vier Jahre her, dass ich meinen letzten Atemzug gemacht hab, doch ich bin hier. Und ich hab mir damals geschworen, dass ich mein Leben genießen werde, egal, was es für mich bereithält. Ich hab mein Leben komplett umgekrempelt und stehe weiterhin, obwohl es schwer war. Ich lasse nicht zu, dass meine Angst mich weiter lähmt."

Sie bemerkte, wie ihre Freunde sie verdutzt beobachteten, als sie sich von ihrem Stuhl erhob und sich zu den Kindern auf die Wiese gesellte, um mit ihnen Ball zu spielen. Stattdessen warf sich ihr Sohn ihr an die Brust und strahlte sie an. Sie lächelte zurück. Das kostete auch nichts. Freude gab es gratis, man musste sie nur in sein Leben lassen, dachte sie und sah den Kindern zu, die einfach ihr Zusammensein genossen. Als sie vor Übermut begannen, Purzelbäume und Räder zu schlagen, einfach, weil sie es konnten.

Sie registrierte, wie sich ihre Freunde langsam dazu gesellten und schaute verdutzt, als ihre engste Vertraute plötzlich rief: „Ok, scheiß drauf!"

Dann lachte sie laut auf und vergoss wieder einmal Tränen, weil ihre Freundin sich ebenfalls unter die Kinder mischte und versuchte, ein Rad zu schlagen. Sofort wurde ihr das Herz leichter und sie fühlte sich bestätigt: Sie würden alles schaffen, egal, was auf sie zukam.

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