Die Fragen

5 3 0
                                    

„Herzlich willkommen, herzlich willkommen in uns'rer schönen neuen Welt...", dröhnte ihr laut durch das geöffnete Fenster eines Wagens entgegen, der an der Ampel stand.

Automatisch schnaubte sie, auch wenn sie wusste, dass das Lied von Culcha Candela eher eins von der sarkastischen Sorte war. Doch die Welt im Moment als einen schönen Ort zu bezeichnen, ging ihr gerade gehörig gegen den Strich, egal, ob es sarkastisch gemeint war oder nicht.

Sie war keine Miesepetra und sie versuchte immer, irgendwie das Positive zu sehen, aber gerade war es irgendwie schwer. Wirklich viel Ahnung von Politik und den Zusammenhängen in der Welt hatte sie auch nicht, aber sie wusste, dass es falsch war, wenn Unschuldige für politische Winkelzüge herhalten sollten.

Sie hörte die Diskussionen in ihrem Umfeld: Ein paar sagten, dass es absolut gerechtfertigt war, dass man im Notfall zu solchen Maßnahmen griff, um ein Volk weiter zu sichern und die andere Seite sprach sich dafür aus, dass nichts den Angriff auf ein Land mit unschuldigen Bürgern rechtfertigte. Denn letztlich zahlten ja die Bürger die Zeche. Bauernopfer. Dieser Begriff geisterte durch ihren Kopf, als sie über die grüne Ampel lief.

Sie war hier sicher, sie lebte schon lange in Deutschland. Sie waren hierher gekommen, da war sie zwei gewesen, dennoch setzte sich ihr Umfeld aus vielen aus Russland stammenden Menschen zusammen. Manche standen trotz ihrer Auswanderung fest hinter ihrem Präsidenten, andere sahen das ganze kritischer. Aber das hatte sie immer als normal empfunden. Immerhin diskutierten sie auch angeregt über die deutsche Politik, das hatte also nichts mit der Nationalität zu tun.

Aber irgendwie fühlte sie sich schuldig. Weil sie hier sicher war und die Menschen in der Ukraine waren es nicht. Die hatten Angst und sie wusste nicht, ob der russische Präsident jetzt im Recht war oder nicht. Sie sagten, er wolle nur einen Handelsweg sichern, der wichtig für ihr Mutterland war, aber mussten das Unschuldige bezahlen? Oder sah sie das alles zu naiv? Und was war, wenn sie ihm nicht gaben, was er verlangte? Würde sich die Situation dann noch verschärfen? Würde dann Land für Land angegriffen werden?

Würde die Welt, so wie sie diese kannte, dann in einem europaweiten Krieg zerbrechen? Oder sogar einem Weltkrieg? Wieso konnte man das nicht an Verhandlungstischen regeln? Sie sah das wahrscheinlich zu kurzsichtig. Aber sie war ja auch nur eine Jugendliche, die keine Ahnung von Politik hatte. Bauernopfer. Hieß das, jeder Mensch war entbehrlich, damit man seinen Willen durchsetzen konnte?

Und wenn das so war, wieso erzählten sie einem von Freiheit und Liberalität, von Toleranz und Akzeptanz, von einer friedlichen Welt? Waren das alle Lügen, wenn man sich einen Vorteil sichern wollte? Wollte sich der russische Präsident einen Vorteil sichern oder brauchte er diesen Hafen wirklich? Sie verstand das alles nicht. Schon gar nicht, dass sich plötzlich so viele Menschen an die Gurgel gingen, weil sie nicht einer Meinung waren. Das ging ja jetzt schon länger so, das war schon während der Corona-Pandemie aufgekommen. Aber sie hatte den Eindruck gehabt, dass sich diese Spaltung langsam wieder etwas geschlossen hatte. Und jetzt traute sie sich nicht mehr zuzugeben, dass sie gebürtige Russin war.

Weil die Menschen offenbar dachten, ihre Nationalität würde automatisch bedeuten, dass sie mit etwas sympathisierte, was sie nicht verstand. Bauernopfer. Wieso konnte sie dieses Wort nicht vergessen? Als wären Bauern nichts wert. Immer wieder kreisten ihre Gedanken über dieses Wort. Sie sah sich um. In der Fußgängerzone ihres Heimatortes lief das Leben weiter, scheinbar unberührt davon, dass Menschen in einem anderen Land Panik hatten. Verdrängten die das oder war es ihnen egal? Klar, die Welt drehte sich weiter, das hatte sie begriffen.

Aber sie hatte Angst. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst vor der Zukunft. So viel hatte sie nicht mal während der Corona-Pandemie gehabt und da war sie schon unsicher geworden. Doch jetzt schwebten diese zwei Worte ständig in ihrem Bewusstsein: Krieg und Bauernopfer. Sie hatte über Kriege gelesen und war über deren Entstehung und Auswirkungen belehrt worden. Manchmal gelang es ihr, dieses Gefühl von Unheil zur Seite zu schieben. Ihre Eltern sagten, sie könnten sowieso nichts machen und dürften sich davon nicht zu sehr beeinflussen lassen.

Aber das gelang ihr nur mäßig. Jeden Morgen schaute sie schon die Nachrichten. Aber sie wusste auch nicht mehr, ob sie denen trauen konnte. Sie beneidete ihre Freundinnen, die weiter so taten, als würden mitten auf ihrem Kontinent Menschen Angst haben und nicht wissen, ob sie flüchten müssen oder in ihrer Heimat bleiben können. Das wäre leichter als diese beiden Worte in seinem Kopf herumzutragen, die ihr wie Bleigewichte auf die Brust drückten.

„Natalia! Huhu! Guck doch nicht so mürrisch!", schimpfte Kathrin sie und riss sie aus den Gedanken.

Sie beugte sich zu ihrer Freundin und umarmte sich, während sie sich mühte, die belastenden Gefühle abzuschütteln, während sie hörte: „Was ist los?"

„Ich hab Schiss. Was, wenn wir kurz vor einem großen Krieg stehen?", gestand sie und fing Kathrins Verwirrung auf.

Dann zuckte sie mit den Schultern und meinte: „Du machst dir wie immer zu viele Gedanken. Wird schon schiefgehen. Wir sind jung und sollten das Leben genießen, ok?"

„Ja. Das Leben genießen. Klar. Schöne neue Welt", flüsterte sie und schloss kurz die Augen, ehe sie ein Lächeln auf ihre Lippen zwang und in Normallautstärke anfügte: „Also, was machen wir heute?"

***********************************

Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now