Ein Phönix, das bin ich

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Sie schlug die Augen auf und streckte sich, während die wärmende Sonne durch die Fensterwand neben ihrem Bett drang und sie in Licht einhüllte. Es wurde morgens und abends jetzt schon ziemlich kühl. Aber es war ja auch schon Anfang September. Genau genommen der sechste und damit brach ein besonderer Tag für sie an.

Sie schloss die Augen nochmal und atmete die frische, kühle Luft ein, die durch die geöffnete Balkontür kam und genoss nochmal, dass sie wohlig und eingekuschelt unter der warmen Decke lag. Sie hatte gelernt, solche Momente zu genießen. Ganz für sich. Vorher hatte sie schlicht funktioniert, war der irrigen Meinung gewesen, genau das musste sie tun. Sie hatte sich getäuscht und seitdem füllte sie immer mehr Gelassenheit.

Sie streckte die Hand nach ihren Kopfhörern aus und beschloss, sich noch ein paar Minuten des Tages zu stehlen, der heute so besonders war. Sie schob sich die Lautsprecher über die Ohren und suchte das Lied, das sie jetzt hören wollte. Das gerade verkörperte, wie sie fühlte. Es war wie sie: Sanftmütig und doch von einer Kraft durchdrungen, die sie gestern vor 4 Jahren noch nicht für möglich gehalten hatte.

Doch jetzt wusste sie es besser. Nachdem sie den Song gefunden hatte, startete sie ihn, drückte die Einzelwiederholung und schloss die Augen wieder, während die sanften Geigenklänge in ihr Herz sickerten, während sie an Intensität zunahmen. Das Lied vibrierte in ihrem Innersten und sie fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, weil es sie so ergriff. Das war sie. Und genau heute vor 4 Jahren hatte sie gelernt, dass sie das zauberhafte Wesen war, dass dem Lied seinen Titel verliehen hatte: Sie war ein Phönix.

Wie dieses Fabelwesen war sie in Feuer und Rauch aufgegangen und wieder neu geschlüpft. Hatte sich nach ihrem Tod mühselig zurück gekämpft in ihr Leben und dabei aber nicht mehr nur auf das gehört, was andere von ihr gefordert hatten. Sie hatte begriffen, dass sie nur noch diese eine Chance hatte, zu leben. Und hatte verbissen daran gearbeitet, es zu können.

Dabei war sie im übertragenen Sinne durch brennende Häuser gelaufen, hatte den beißenden Rauch eingeatmet und war berstenden Scheiben ausgewichen. Sie hatte sich gegen die geistigen Fesseln aufgelehnt, die sie sich selbst und andere ihr auferlegt hatten, und hatte sich mit jedem Tag ein bisschen mehr befreit von den Fesseln, die sie vor diesem Tag gefühlt hatte.

Während sie den kraftvollen Takten des Songs lauschte, erinnerte sie sich an den Moment, wo sie völlig entkräftet aus dem Koma erwacht war, unfähig, sich selbst die Haare zu kämmen und einen Pferdeschwanz zu binden. Sie spürte dem Unglauben nach, den sie damals empfunden hatte. Genauso wie dem Moment, in dem sie die Erkenntnis getroffen hatte, dass sie das nicht wollte.

Sie hatte nicht mehr abhängig sein wollen. Von niemandem. Nicht von der Krankenschwester, die ihr Brötchen teilte, damit sie es mit langsamen Bewegungen halb gekaut schlucken konnte, obwohl selbst das fast zu anstrengend war, noch von ihrem Mann, der ihr Leben bestimmte. Nicht mal ein eigenes Konto hatte sie gehabt. Kein eigenes Einkommen. Nichts. Ihr Alltag beschränkte sich auf die Kinder und ihren Gatten. So hatte sie nicht mehr leben wollen.

Also erklärte sie am nächsten Tag den völlig irritierten Ärzten, dass sie wie Unkraut war: Man könne sie ausreißen, doch sie käme jedes Mal stärker zurück und jetzt würde sie alles daran setzen, so schnell wie möglich wieder aus dem Krankenhaus zu kommen.

Was mir gelungen ist', erinnerte sie sich und ein breites Lächeln zeigte sich auf ihrem rundlichen Gesicht.

Jede Minute hatte sie verbissen an diesem Ziel gearbeitet, hatte die Grenzen ihres Könnens jeden Moment erweitert. Schon am nächsten Tag wurde sie von der Intensiv- auf die Überwachungsstation verlegt, zwei Tage später auf die normale Station. Schon in der Nacht ging sie mit wackligen Schritten und in Begleitung ihrer Zimmergenossin durchs Krankenhaus. Am nächsten Tag stieg sie gemächlich Treppen hinauf, immer darauf bedacht, sich nicht zu überanstrengen, aber doch voran zu kommen.

Wenn Gedanken Flügel wachsen...Tahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon