Die Reise

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Sie saß in der Bahn und die Außenwelt flog nur so an ihr vorbei. Sie hatte nie gedacht, dass sie irgendwann wieder zurückkehren würde. Niemals. Trotzdem hatte sie ihre Pläne umgeworfen und war Hals über Kopf mit hastig gepackter Tasche zum Bahnhof geeilt, um die Bahn zu erwischen.

Sie seufzte und wendete den Blick vom Fenster ab, auf das alte vergriffene Buch in ihrer Hand. Ihr Allerheiligstes. Darin sammelte sie Worte. Irgendwann hatte sie alles feinsäuberlich darin eingetragen. Nicht sortiert. Nur so, wie ihr die Zettel in die Hand gefallen waren. Sie hatte diese gesammelt, seit sie 12 war. Also schon ziemlich lang. So viele Buchstaben, sortiert in Worte, die sie in Sätze geschrieben und daraus ihre Gedanken geformt hatte. Ihr Innerstes nach außen gekehrt, zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens. Nur für sich. Vielleicht, um sich zu erinnern? Oder um etwas loszuwerden? Womöglich eine Mischung aus beidem.

Sie schlug es auf und blätterte ehrfürchtig durch die Seiten, überflog, was sie eingetragen hatte. Sie musste lächeln. Das alles war sie. Und noch mehr. Sie hatte jedem ihrer Ex-Freunde sowohl Willkommens- als auch Wiedersehensworte gewidmet. Teils lyrisch und philosophisch, teils einfach geradeaus. Einfach so, wie es aus ihr herausgeflossen war. Teils noch etwas naiv, teils überraschend abgeklärt. Sie hatte viele Gedichte für ihre Mutter geschrieben. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, als sie die Beziehung zu dieser als verloren und zerbrochen glaubte. Sie konnte die Einsamkeit von damals nachempfinden, die sie damals empfunden hatte. Das Gefühl, völlig lost zu sein und sich zu wünschen. Da wäre jemand, der einem beistand.

Sie hatte sich Beistand gesucht - auf ihre Weise. Indem sie auf Partys ging, trank, rauchte, flirtete und manches Mal in einem fremden Bett landete. Nur, um nicht daheim sein zu müssen. Um nicht einsam zu sein. Um das Gefühl zu haben, dass es jemanden auf dieser Erde gab, dem sie wichtig war. Zumindest ein paar Stunden, Wochen oder Monate. Sie hatte sich damals wirklich von einem Kurzzeitintermezzo ins Nächste gestürzt, auf der Suche nach etwas, das sie nie gefunden hatte. Freud und Leid, ganz eng beieinander. Schmerz und Glück spürbar in diese Zeilen gebracht. Sie schüttelte nochmal den Kopf. Manchmal konnte sie nicht glauben, dass all diese Worte von ihr kamen. Aus ihr herausgebrochen waren bisweilen. Oder sanft aus ihr herausplätscherten. Auch das war spürbar. Vielleicht waren es aber auch die Erinnerungen an die einzelnen Situationen, die Menschen, denen sie die Buchstabenfolgen gewidmet hatte.

Ihr Blick blieb an den Zeilen der 12-Jährigen hängen, die diese für einen Wettbewerb in der Schule verfasst hatte. Ihrem Lehrer hatte es nicht gefallen. Weil es sich nicht gereimt hatte. Und weil es nicht das Übliche gewesen war. Sie konnte sich noch heute daran erinnern, wie enttäuscht sie gewesen war. Denn sie hatte sich getraut und die gut verborgenen Gedanken mit ihm geteilt. Vielleicht war es nicht das Übliche, dachte sie, als sie plötzlich Stolz durchfuhr, aber es war das, was sie empfunden hatte. Wie sie die Welt gesehen hatte. Worüber sie sich Gedanken gemacht hatte. Dabei gab es kein Richtig oder Falsch.

"Wenn eines nicht zusammenpasst, sind das Politiker und Frieden.

Erst versuchen sie alles, um Frieden zu fördern, dann streiten sie sich wegen irgendeiner Kleinigkeit und dann ist Krieg", las sie und schmunzelte, während ihr Herz schneller schlug.

"Wer muss ihn ausbaden? Die Bürger natürlich und die Kinder am meisten. Dabei heißt es in einem Poesiespruch so schön: 'Bleibe immer froh und heiter, küss' die Buben und so weiter denn schon die Aposteln schrieben: Du sollst deinen Nächsten lieben!', entzifferte sie grinsend und fügte in Gedanken an, dass man natürlich auch Mädchen küssen konnte, doch davon hatte sie damals noch keine Ahnung gehabt.

Sie schüttelte den Kopf und las: "Ein wahres Wort, wenn man bedenkt, wie viel Krieg es auf der Erde gibt. Ach und diese Konfessionskriege, worüber regen wir uns eigentlich auf? Im Grunde glaubt doch jeder an den gleichen Gott. Er heißt doch nur anders. Auch diese Rassenkriege sind schlimm. Es gibt verschiedene Völker mit verschiedenen Hautfarben, na und?"

Wieder sah sie fassungslos auf Worte, geschrieben von einer idealistischen 12-Jährigen, die erklärte: "Kein Mensch kann sich aussuchen, mit welcher Farbe er geboren wird. Das, sollten sich die Politiker und überhaupt alle Menschen einmal durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht würde es dann weniger Kriege geben."

'Wenn es so einfach wäre', dachte sie und blätterte weiter, ehe sie innehielt und nochmal nachdachte.

Im Grunde hatte ihr 12-jähriges Ich das ziemlich gut auf den Punkt gebracht. Ok, es war eine ziemlich naive Sicht auf manche Dinge. Aus heutiger Sicht überhaupt nicht politisch korrekt. Aber daran hatte das Mädchen von damals keinen Anstoß genommen. Es hatte aufgeschrieben, wie sie sich die Welt wünschte. Denn hinter all der Kritik auf die Politik als Vertreter der Gesellschaft steckte der Wunsch nach einer Welt, in der solche Dinge keine Rolle spielten. Wo die Menschen zählten und alles andere Nebensache war. Wo man sich mühte, ein gemeinsames Miteinander zu finden.

Sie schüttelte wieder den Kopf und erkannte, dass sie sich das immer noch wünschte. In vielen anderen Bereichen. Aber das Grundbedürfnis nach Harmonie war das gleiche geblieben. Sie sah wieder hinaus in die Welt außerhalb des Bahnfensters und bemerkte, dass sie in einen Bahnhof einfuhren. Sie beobachtete die Menschen draußen am Bahnsteig und plötzlich konnte sie sich wieder an allem erfreuen: Dem schwulen Pärchen, das sich küsste. Der Oma, die ihren Enkel küsste, der etwas missmutig dreinsah und sich über die Wange wischte, ehe er grinste. Die junge Familie, die leicht gestresst mit dem ganzen Gepäck einer Familie über den Bahnsteig hetzte und die dann lächelte, weil ihr Kind die Eltern anstrahlte. Die migrantischen, die etwas verschüchtert am Bahnsteig stand, während deren Tochter strahlend mit dem blonden, blauäugigen Mädchen quatschte. Sie hörte, wie die Zugtüren sich öffneten und vernahm, wie eine Gruppe Jungs einstiegen, die offenbar den Junggesellenabschied feierten. Sie musste zwangsläufig grinsen, obwohl sie ein scharfer Schmerz durchzuckte. Das hätte sie auch bald gemacht. Aber das war jetzt egal.

Sie kramte nach einem Stift, schlug ihr Büchlein nochmal auf und schrieb: "Das Leben ist eine bunte, verrückte Reise...."

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now