Gespalten

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Sie sah sich um. Nur noch Hass überall. Das Herz wurde ihr schwer. Was war nur passiert in den letzten beiden Jahren? Wo war die Toleranz geblieben, die sie so stolz auf ihr Land gemacht hatte? Irgendwo zwischen Angst vor einer Krankheit und freier Selbstbestimmung war sie wohl abhandengekommen. Ihre Brust war wie zugeschnürt. Sie bekam kaum mehr Luft. Das ging ihr immer sehr so. Jeden Tag drückte der Klumpen aus Eis mehr auf ihre Brust und presste den Atem aus ihrer Lunge, machte es ihr schwieriger, Sauerstoff aufzunehmen.

Aber so war die Situation. Sie wusste nicht, wie sie herauskommen sollte. Jeder war darin gefangen und bestimmt war sie nicht die Einzige, die sich darüber Gedanken machte, wohin das noch führen sollte. In totalitären Zwang? Wo war der Liberalismus, den sie so geliebt hatte?

Sie wusste das genauso wenig, wie die Antwort auf die Frage, wie lange sie das noch ertragen konnte. Immerhin neigte sie ohnehin dazu, die Welt eher schwarz zu sehen als hell und es kostete sie immer mehr Mühe, den Kopf nicht hängen zu lassen. Schon immer hatte sie zu Depressionen geneigt, doch ihre Familie und ihre Freunde hatten ihr stets den Rücken so gestärkt, dass sie sich hatte fangen können und diese Phasen relativ schnell vorbeigegangen waren.

Doch jetzt war es anders. Selbst ihre Familie und ihre Freunde hatten sich gespalten. In die, die es richtig fanden und in die, die es verurteilten. Gegenseitige Streit- und Überzeugungsreden waren genauso an der Tagesordnung wie Unverständnis, Verzweiflung, innere Zerrissenheit und Panik. Wenn sie sich nicht mal mehr auf den Rückhalt ihrer Liebsten verlassen konnte, worauf sollte sie sich dann noch verlassen? Ihr Bauchgefühl? War das überhaupt verlässlich? Denn ihr Kopf widersprach ihrem Bauch so oft, dass sie es nicht mehr zählen konnte.

Sie seufzte erneut und setzte ihren Spaziergang fort, während sie ihren Überlegungen weiter nachhing. Wie hatte es so weit kommen können? Wieso war man so beeinflussbar? Weshalb ließen sich manche von Dingen leiten, die Toleranz aushebeln konnten? Warum war es so ein großes Thema geworden? Sie verstand es einerseits. Jeder hatte Angst. Angst um sein Leben, seine Existenz, um seine berufliche Zukunft und seine Liebsten. Die Fülle der Ängste war riesig. Und alle zusammen fraßen wohl die Toleranz auf und spalteten die Gesellschaft im Großen und im Kleinen.

Doch was konnte man dagegen tun? Sie blieb stehen und ließ den Blick über den Park wandern, der im Sommer wohl wunderbar grün war, jetzt jedoch wie alles andere nur noch graugrün. Spätherbst. Da, wo die Tage immer dunkler wurden und sie jedes Jahr aufs Neue mit sich zu kämpfen hatte, weil auch am Tag nur Nebel, Kälte und grau zu sehen war. Kaum ein natürlicher bunter Fleck.

Sie beobachtete, wie ein kleiner Junge auf einen anderen zuging und ihm tröstend den Ball reichte, den dieser nicht hatte fangen können, weil er zu klein war. Nun zupfte ein Lächeln an ihren Lippen, als sie erkannte, dass der Weg weit, aber nicht unüberbrückbar war, um das zu tun, was das größere Kind gerade vorgemacht hatte: Aufeinander zugehen und sich in die Lage des anderen zu versetzen, um auch den kleineren ins Spiel einzubeziehen.

'Eigentlich ganz einfach', dachte sie und hielt nach weiteren Beispielen Ausschau, dass doch noch nicht alles verloren war.

Wie sieht es aus? Machst du mit?

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