Advent

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Sie saß vor dem Tisch und starrte auf die leere Tischplatte, während sie seufzte. Früher hatte da immer ein Adventskranz gestanden und wenn es dunkel geworden war, hatten sie sich als Familie darum versammelt, alle Lichter gelöscht, die Kerzen angezündet und aus dem Adventsbuch ein paar Lieder gesungen oder eine Weihnachtsgeschichte gehört.

Sie schloss die Augen und stellte sich eine der Situationen vor. Ihr Papa, der leicht lächelte, weil er sich schwertat, seine Gefühle zu äußern, aber sich der Atmosphäre nicht erwehren konnte. Ihre jüngere Schwester auf dem Schoß von ihrer Mama, die mit strahlenden Augen den Worten von Mama lauschte und in das flackernde Licht der Kerzen schaute. Sie selbst, gerade mal 6 Jahre alt, wie sie das Gefühl der Zusammengehörigkeit genoss, während sie so gut sie konnte die kleinen Buchstaben aus dem Buch entzifferte, weil sie immer unbedingt mitlesen wollte.

Sie konnte nicht besonders gut lesen, sie hatte erst angefangen, es zu lernen, aber schon hatten die Worte und vor allem die Lieder sie in ihrem Bann gezogen. Sie fühlte sich jedes Mal gut aufgehoben und sicher und die Worte ließen sie von Engeln träumen. Sie hatte die irrwitzige Idee gehabt, dass die Engelchen da oben im Himmel in einem riesigen Kinosaal saßen und jeder einzelne von ihnen einen anderen Film sah. Eben den von seinem Schützling, um auch zu wissen, wann der in Gefahr war und wann er eingreifen musste. Sie stellte sich vor, dass ihr Engel jetzt auf seinem Platz im Kinosaal saß und die Hände in den Schoß legte und lächelte, weil alles gut war und er Pause hatte. Denn inmitten ihrer Familie war sie sicher.

In dieser einen halben Stunde an jedem Tag im Advent, war sie absolut sicher. In diesen Momenten war es egal, was sonst am Tag passiert war, es spielte überhaupt keine Rolle. Da hatte sie so etwas wie inneren Frieden kennengelernt und sich in dieses wohlige, wattige Gefühl hineinfallen lassen dürfen. Da waren die Streitereien zwischen ihr und Alina ebenso unwichtig, wie die zwischen Mama und Papa. Da waren sie eine Familie.

Jetzt - knapp 5 Jahre später - saß sie alleine am Tisch, in einer anderen Wohnung und ohne Papa. Auch ihre Mama war nicht da. Sie war für Alina zuständig, denn ihre Mama musste viel arbeiten, damit sie sich auch so eine große Wohnung leisten konnten. Das erklärte sie ihr immer wieder, wenn sie fragte, wann sie mal wieder eine Familie sein konnten. Das verstand sie auch. Irgendwie. Man brauchte Geld für einfach alles. Und um es zu bekommen, musste man arbeiten. Aber sie hätte ihrer Mama gerne erzählt, wie es ihr gerade ging.

Wie einsam und verlassen sie sich manchmal fühlte, weil sie mit ihren 11 Jahren eben manchmal nicht "die Große" war, sondern einfach nur ein Kind, dass den Kopf auf den Schoß der Mutter legen und sich durch die Haare streicheln lassen wollte. Wie schwer es war, zuzusehen, dass Mama so kaputt war, wenn sie mal zuhause war und wie anstrengend es war, sich um eine jüngere Schwester zu kümmern, mit der sie nicht das geringste gemein hatte - abgesehen von ihren Genen. Sie kam schon zurecht, so war es nicht. Aber manchmal wäre es schön, wenn ihre Mama da wäre.

Oder ihr Papa. Den vermisste sie immer noch, obwohl sie sich ja hin und wieder sahen. Dann konnte sie Kind sein, aber den Druck auf ihrer Brust, den sie oft hatte, konnte sie nicht abwerfen. Weil sie doch die wenige Zeit als Kind genießen wollte, wenn sie nicht überlegen musste, was es zum Abendessen gab und ob sie noch Zeit zum Bügeln hatte. Sie wollte dann einfach nur an sich denken und sich verwöhnen lassen. Manchmal fragte sie sich, ob sie deswegen egoistisch war. Aber eigentlich hielt sie sich nur an das, was Mama ihr sagte: Dass Papa nicht zu wissen brauchte, wie ihr Alltag aussah. Weil es egal war und sie zurechtkämen.

Sie seufzte nochmal und schüttelte den Kopf. Ihr Leben war nicht schlecht. Sie hatte in der Schule von Kindern gehört, die keine Eltern mehr hatten oder die nicht mal was zu essen hatten oder kein Dach über dem Kopf. Sie hatte Eltern und ein zuhause und essen hatte sie auch. Und eine Schwester, die gleich von ihrer Freundin nach Hause kommen würde. Sie hatte keine Freunde. Nicht so wirklich. Sie musste ja den Haushalt machen und Schularbeiten und sich um Alina kümmern. Da hatte sie keine Zeit für Freunde. Nicht so wirklich. Außerdem mochte sie keiner. Weil sie manchmal so ernst war und so vernünftig und nicht so albern. Sie konnte die Gleichaltrigen auch nicht so verstehen. Manchmal dachte sie, dass sie in einem anderen Universum lebte und nur für die Schule auf die Erde kam.

Sie hörte, wie Alina den Schlüssel ins Schloss steckte und fasste einen Entschluss: Heute würden sie ein bisschen Weihnachtsstimmung haben. Schnell rutschte sie vom Stuhl, holte ein paar Teelichter, stellte sie auf den Tisch und zündete zwei an. Gerade als ihre Schwester hereinkam, stellte sie ihre liebste Weihnachtsmusik an: von Rolf Zuckwoski. Der sang mit einem Chor wunderschöne Lieder, die sie manchmal traurig und meistens froh machten. Sie liebte vor allem ein Lied: "Wär uns der Himmel immer so nah".

"Hey, Sis... Was machst du?", fragte Alina und sie zuckte mit den Schultern.

"Es ist Advent. Ich wollte Weihnachtsstimmung. Du kannst dich nicht mehr daran erinnern, aber es war früher richtig schön im Advent", erwiderte sie und ihre Schwester kam auf sie zu und runzelte die Stirn.

"Aha. Ich hab aber Hunger", stellte diese fest und sie nickte.

"Ich weiß. Ich hab schon eine Dose aufgemacht und aufgewärmt. Aber du bist zu spät. Wir können sie essen, während wir hier sitzen und der Musik lauschen. Ist das ok?", fragte sie und Alina nickte.

"Ist ok. Ich hol die Teller und deck den Tisch. Das Lied ist schön", sagte ihre Schwester und sie nickte und sah ihr zu, wie sie in der Küche verschwand.

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