Freiheit

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Wie immer stehe ich an meinem Lieblingsplatz und starre hinaus ins Freie. Es ist ein sonniger Tag, die Vögel zwitschern und eigentlich müsste ich schon alleine deswegen gute Laune haben. Aber meine Stimmung ist gedrückt. Wie so oft in der letzten Zeit. Mein Blick fällt auf das Vogelnest, das sich in dem großen Ahornbaum schräg neben dem Fenster im Hinterhof meiner Wohnung befindet. In dem zanken sich ein paar Jungvögel um den Wurm, den ihre Mutter ihnen gebracht hat.

Ich frage mich, ob sich die Vogelmama wohl von den Forderungen ihres Nachwuchses gestresst fühlt und beobachte die vier weiter. Der erwachsene Piepmatz bleibt völlig entspannt, während die Babys sich um die Nahrung balgen. Automatisch steigt Bewunderung in mir auf, ohne, dass ich es verhindern kann. Ich kann nicht so ruhig bleiben. Nicht im Moment. Mich stresst alles. Ich fühle mich nur so papierdünn im Augenblick und manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich ersticken. An dem, was ich angerichtet habe. An dem, was mir zu tun bleibt. An den Forderungen, die daran hängen. Dann, wenn sich meine Brust so schmerzhaft zuschnürt, sehe ich hier aus dem Fenster und beobachte die Vögel, die auf eben diesem Baum genistet haben. Erst waren es nur zwei. Sie haben sich da auf den Ast gesetzt und haben sich umgarnt. Es war so schön, ihnen dabei zuzusehen. Auch, wenn mir dadurch oft bewusst wurde, wie einsam ich mich fühle. Ich habe keine Zeit für eine Beziehung, denn mein Alltag füllt mich zu sehr aus.

Aber ich habe hier gestanden und beobachtet, wie sich die beiden die schönsten Lieder sangen, um sich zu beeindrucken, wie sie auf dem Ast immer näher rückten und schließlich, wie sie schnäbelten und sich paarten. Nebenbei entstand immer mehr das Nest, in dem sich ihre Brut nun um Essen streitet. Jeden Tag habe ich aus dem Fenster gesehen und beobachtet, wie das Amselmännchen seinem Weibchen Fressen brachte, während sie brütete. Wie er sie umsorgte und immer wieder war Neid in mir aufgestiegen. Manchmal wäre es einfach schön, auch so jemanden zu haben. Mit dem man seine Sorgen teilen konnte und der einen umsorgte. Zumindest ein bisschen. An den man sich lehnen konnte, wenn es gerade zu schwer wurde und der einem zuhörte. Aber ich gehe jeden Abend allein ins Bett, horche auf die Geräusche in der Wohnung und versinke in leichtem Schlaf.

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so richtig tief geschlafen habe. Es ist, als wüsste mein Unterbewusstsein, dass ich mir das im Grunde nicht erlauben darf. Ich habe Rufbereitschaft, sobald ich zuhause bin. Da ist niemand, der sich die Pflege meines tetraplegischen Vaters teilen würde. Abgesehen von dem mobilen Dienst, der kommt, wenn ich in der Arbeit bin. Denn im Grunde kann er nicht mehr viel. Er kann nicht mal seine Finger bewegen. Und das ist meine Schuld. Als wäre es nicht schon belastend genug, dass ich weiß, meine Mutter auf dem Gewissen zu haben.

Heute vor vier Jahren haben wir den Unfall gehabt, bei dem ich meine Mutter getötet und meinen Vater so verletzte, dass er nun dieses Dasein fristet. Purer Leichtsinn einer 18-Jährigen, die gerade frisch den Führerschein hatte. Ich hätte vorausschauender fahren müssen. Dann wäre das andere Auto nicht seitlich so in den Familienwagen gekracht und Mama könnte noch leben. Und Papa wäre nicht an ein Bett gefesselt. Während ich mit ein paar Schnittwunden geschockt aus dem Wrack gestiegen war. Seitdem habe ich nie wieder an dem Steuer eines PKWs Platz genommen. Denn immer läuft der gleiche Film vor meinen Augen ab. Der Moment, in dem ich realisiere, dass ich es vermasselt habe. Dass es nicht gut ausgehen wird. Die Bilder, die jetzt in meine Gedanken einfallen, schiebe ich hastig weg, genauso wie ich die Tränen schlucke. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Aber ich würde es gerne. Manchmal wünsche ich mir auch einfach nur, ich könnte den Platz meiner Mutter einnehmen. Die liegt nun unter einer Buche mit Blick auf einen kleinen Teich. Also nicht sie. Ihre Asche.

Ich kann mich noch so gut an die Beerdigung erinnern. Nein. Das ist falsch. Ich kann mich an EINE Begebenheit der Beisetzung erinnern: Das Bild, dass der Bestatter an die Wand gestrahlt hatte. Auf dem meine Mutter im Arm meines Vaters strahlte, der damals noch im Koma gelegen hatte. Ich weiß noch, dass ich dieses Bild anstarrte und versuchte zu begreifen, dass sie in das in dem Gefäß darunter war. Das diese Urne den Rest meiner Mutter enthielt. Es ist mir nicht gelungen. Nicht an diesem Tag. Erst ein paar Tage später bin ich zusammengebrochen. Ich bin eine wirklich schlechte Tochter. Ich habe die Trauerrede nicht gehalten, die ich geschrieben hatte. Ich konnte es nicht. Die wenigen persönlichen Worte, die ich an sie hätte richten können, waren zu viel, als dass ich sie hätte aussprechen können. Stattdessen hat sie der Bestatter vorgelesen. Viele ihrer Freunde waren danach auf mich zugekommen und hatten mir gesagt, welch schöne Worte ich gefunden hatte, wie stolz sie auf mich wäre.

Mich hat nur Wut geflutet. Wieso sagten die Menschen so etwas? Ich bin der Grund, dass sie nicht mehr unter uns weilt. Ich bin daran Schuld, dass sie nie wieder lacht. Sie hat so gerne gelacht. Mir fehlt ihr Lachen. Noch heute empfinde ich Entrüstung über die Begeisterung der anderen, die mir danach kondolierten. Als würde es das Geschehene ungeschehen machen, den Schmerz auffressen, der mich zerriss. Ich weiß noch, wie meine Hände, mein Körper erzitterten unter der Anstrengung, nicht völlig auszurasten.

Aber die Wut war noch besser gewesen, als die Leere, die ich empfunden hatte, nachdem ich später am Tag alleine in unserer alten Wohnung war. Stundenlang habe ich wie gelähmt auf das Ehebett meiner Eltern gestarrt und versuchte zu begreifen, wie das sein konnte. Warum ich noch lebte. Wieso Papa um seines kämpfte, obwohl klar war, dass er sich nie wieder erholen würde. Ob man das im Koma nicht merkte? Dass der Körper im Grunde zerstört war und man das vielleicht wahrnahm, weil das Denken, die Logik noch völlig intakt waren? Hatte er nicht gewusst, worauf er sich einließ, als er sich von der Dunkelheit ins Licht kämpfte? Er kann es mir nicht beantworten. Er erinnert sich nicht.

War er deswegen so miesgelaunt? Weil er jetzt registrierte, dass er - sofern ihn keine Lungenentzündung durch die künstliche Beatmung vorher dahinraffte - die nächsten 20 oder 30 Jahre noch so dahinvegetieren würde? Ich hasse mich, dass genau jetzt mein Egoismus hochkocht. Auch mein Leben ist davon betroffen. Ich werde nie selbst einen Partner haben, mit ihm zusammenziehen, eine Familie gründen. Das alles bleibt mir verwehrt. Welcher Idiot sollte so etwas auch akzeptieren? Einen Vollpflegefall, den ich zu umsorgen habe und jeden Abend neben einer Mörderin einschlafen? Eben. Niemand.

Ich reiße mich in die Gegenwart zurück, bevor mich die dunklen Gedanken zu sehr vereinnahmen und denke an den heutigen Tag. Es hat mich so überrascht, ausgerechnet meiner ersten großen Liebe über den Weg zu laufen. Was für ein beschissener Zufall oder Einfall des Schicksals, dass er genau dort arbeitet, wo ich meinen Nebenjob begonnen habe, damit ich die Rechnungen alle bezahlen kann. Sofort waren die alten Gefühle wieder in mir hochgekommen. Es hat damals so wehgetan, ihn zu verlassen. Aber es hat mir solche Angst gemacht, woher er kommt. Oder kam. Woher soll ich das wissen? Ich hätte alles für ihn getan. Und genau darin hat die Gefahr bestanden. Also hatte ich mich lieber von ihm getrennt, bevor er mich tiefer in das Milieu ziehen konnte, aus dem er stammte. Er sah so unverschämt gut aus. Mir waren sofort die Hände feucht geworden. Nachts, wenn ich allein in meinem Bett lag, hat er sich in meine Gedanken geschlichen und war dort verweilt. Da konnte ich mir vorstellen, was gewesen wäre, wenn er nicht das gewesen wäre, was er war.

Jetzt werde ich also immer wieder auf ihn treffen. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder deswegen heulen soll. Ich habe nie einen anderen geliebt. Ich hatte nach der Beziehung mit ihm natürlich ein paar Bekanntschaften gehabt, aber in mein Herz hat es niemand geschafft. Weswegen auch alles im Sande verlaufen war. Und nach dem Unfall hatte ich keine Zeit mehr für Liebschaften.

"Mareike!", höre ich und schließe kurz die Augen, um mich zu sammeln.

Die Pause ist vorbei. Ich sehe, wie die Vogelmutter die Flügel ausbreitet und davonfliegt. Sehnsüchtig folge ich ihr mit den Augen und seufze tief. Ich würde gerne mit ihr tauschen, durchzuckt es mich. Dann hätte ich wenigstens ein Leben, auf das ich mich freuen konnte. Aber meinen Vater in die Schweiz schaffen, wie er es immer wieder fordert, das kann ich nicht. Ich hab schon meine Mutter auf dem Gewissen. Ich kann doch nicht zulassen, dass er sein Leben weggibt.

Ich reiße mich mühselig von dem Amselweibchen los, das in der Luft schwebt und rufe: "Ja, Papa! Ich bin sofort da!"

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now