Fahrtwind

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Frische, die an meine Nase weht und meine Lungen mit dem Geruch von Freiheit füllt, gepaart mit dem röhrenden Sound der E-Gitarre, die aus dem Autoradio dringt. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt und wie sich meine Mundwinkel nach oben ziehen. Würde ich nicht am Steuer sitzen, würde ich jetzt die Augen schließen und mich an der Situation erfreuen.

Das habe ich schon als Kind gemocht, fällt mir ein und meine Gedanken wandern zurück zu einer solchen Gelegenheit wie der heutigen. Wo die Landstraße leer ist und ich meine kleine Kinderhand aus dem geöffneten Fenster strecke, nur um zu fühlen, wie der Fahrtwind an ihr zerrt. Wie sich das Kribbeln dieses Gefühls über den Arm in meine Brust ausbreitet und von dort in meinen ganzen Körper geschickt wird.

Ein leises Versprechen liegt in diesem Kribbeln: Am Ende der Reise wird etwas Neues warten, ein Abenteuer, das es zu bestreiten gilt oder die Ruhe danach, je nachdem, was der Start und wo das Ziel ist. Je älter ich wurde, umso seltener wurde dieses Gefühl. Doch genau diese Vorfreude macht sich auch jetzt in mir breit und ich drehe das Radio lauter, singe so laut und falsch mit, wie ich nur kann.

Es ist mir egal. Ich bin gefangen in dem Moment, in dem ich mich gerade freier und lebendiger fühle, als noch ein paar Minuten zuvor. Manchmal denke ich, der Alltag möchte mich ersticken. Doch dann setze ich mich in mein Auto und fahre, flüchte, zumindest für ein paar Stunden. Ich weiß, dass es nicht besonders umweltfreundlich ist, aber nichts gibt mir dieses Gefühl. Nichts ist damit vergleichbar.

Nicht häufig leiste ich mir diesen Luxus, denn mir fehlt die Zeit dafür und auch das Geld, um ständig nachzutanken. Doch diese Art der Freiheit ist für mich unbezahlbar. So war es schon immer, verstehe ich plötzlich. Jedes Mal, wenn ich von zuhause abgeholt worden war, wusste ich, dass mir eine Zeit bevorstand, in der ich einfach nur Kind sein durfte. Ohne die Verantwortlichkeiten, die sonst in meinem Alltag auf mich warteten.

An solchen Tagen bedeutete das Autofahren nur Freiheit und Lebendigkeit. Das hat sich irgendwie bei mir verfestigt. Auch damals habe ich so laut ich konnte zu den Songs gesungen, die mein Vater extra wegen mir aus den Boxen dröhnen ließ. Manchmal denke ich, seine amüsierten Blicke heute noch zu spüren, wenn ich mich so gehen lasse. Natürlich weiß ich, dass es Blödsinn ist, denn jetzt sitze ich ja am Steuer und lenke das Fahrzeug, das mich von da wegbringt, wo es mir zu eng ist und zu viel Druck auf meinen Schultern lastet.

Ich werfe einen prüfenden Blick in den Rückspiegel und sehe, dass auch hinter mir kein einziger Wagen die leere Straße vor mir befährt. Sonst macht Einsamkeit mir Angst, aber gerade bin ich sehr froh darüber. Ich muss mich nicht sehr auf den Straßenverkehr konzentrieren, sondern kann meinen Gedanken einfach freien Lauf lassen. Ich öffne das Fenster weiter und spüre, wie der Fahrtwind durch mein Haar fährt, an ihm zieht, es mir etwas in mein Gesicht pustet, sodass es mich an der Wange kitzelt.

Ich grinse wieder und richte meine Rechte anders auf dem Lenkrad aus, damit ich meine linke Hand davon lösen kann. Ich sehe auf die Straße vor mir, genieße den Anblick, wie die Sonne sich gerade schon leicht golden verfärbt und bald untergehen wird. Ich fahre in den Sonnenuntergang. Irgendwann, wenn es dunkel ist, werde ich nach Hause zurückkehren und mich dem Leben wieder stellen. Doch bis dahin, will ich einfach weiter spüren, wie der Fahrtwind an meiner Hand zerrt, die nun auch schon erwachsen ist und mich so fühlen, wie damals als dieses Gefühl Kindheit bedeutete.

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now