Lebendig

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Sie seufzte und schloss die Augen. Rollte mit den Schultern. Hatte das Gefühl, als würden Bleigewichte auf ihnen lasten. Oder besser, als wäre das so gewesen. Sie hatte es geschafft. Denn sie hatte eine Entscheidung getroffen und die ersten Vorbereitungen eingeleitet. Immer noch hatte sie ein bisschen Respekt vor dem, was kommen würde. Aber es konnte nur besser werden, als es gewesen war, richtig?

Sonst wäre sie diesen Schritt ja nicht gegangen, hätte nicht so entschlossen, wie sie sich entschieden hatte. Zum Ende hin war es gewesen, als würde sie keine Luft mehr bekommen, alles hatte sie nur noch eingeengt. Sie hatte gespürt, dass sie ersticken würde, wenn sie blieb. Also hatte sie sich langsam mit dem Gedanken angefreundet, zu gehen. Alles über den Haufen zu werfen und nochmal von vorne zu beginnen.

Noch immer schlug ihr Puls Pirolen, wenn sie an den Moment dachte, an dem ihr das klar geworden war. Dass sie eingehen würde, wie ein Pflänzchen ohne Wasser und Licht, wenn sie so weitermachte. Wenn sie sich mit dem zufriedengab, was so alltäglich geworden war. Womit sie sich all die Jahre zuvor arrangiert hatte. Doch sie war noch zu jung, um so ein Leben zu fristen. Wann war eigentlich die Ablauffrist für Glück?

Es war vermutlich so, wie es immer hieß: Beziehungen hatten ein Mindesthaltbarkeitsdatum. Manches war darüber hinaus noch genießbar, manches musste man sofort entsorgen. Sie hatte die vage Befürchtung, dass das MHD schon seit einiger Zeit abgelaufen war. Sie hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Ihr Kopf war immer noch voll. Darum hatte sie sich in ihr Auto gesetzt und war losgefahren. Nur weg, einfach ein bisschen Luft holen.

Sie zog sich die Schuhe von den Füßen und spürte, wie der Sand durch die Zwischenräume ihrer Zehen drang und wie sie leicht einsank. Ja. Das fühlte sich gut an. Sie merkte, wie der Wind mit ihrem Haar spielte und schloss nochmal die Augen, atmete tief ein. Schmeckte das Salz der Luft auf ihrer Zunge, als sie den Atem langsam wieder ausstieß. Ja.

In jeder ihrer Zellen ploppte dieses Wort auf: Ja. Sie war hier. Mehr zählte gerade nicht. Sie öffnete die Augen und sah auf das Meer hinaus, das sich bis zum Horizont erstreckte und ihr die Weite schenkte, die sie gerade noch vermisste. Denn sie musste zugeben, dass gerade die Wände ihres bisherigen Heims immer ein bisschen dichter kamen, wenn sie sich dort aufhielt. So richtig heimisch fühlte sie sich nicht mehr dort, seit alles ausgesprochen worden war. Eher so, als wäre sie ein geduldeter Gast.

Das war ok. Sie hatte es nicht kommen sehen. Melanie war überrascht gewesen, sie hatte es nicht geahnt. Umso mehr Tränen waren geflossen und desto schlechter hatte sie sich gefühlt. Aber sie konnte auch nicht aus ihrer Haut. Genauso wenig wie Melanie. Sie hatten eine schöne Zeit miteinander gehabt und in stillen Momenten dachte sie an diese und hasste sich dafür, dass sich ihre Gefühle geändert hatten. Die Selbstzweifel waren zwischenzeitlich so laut geworden, dass nicht mal laute Musik sie zum Schweigen gebracht hatte.

Sie lief langsam an die Wasserkante und bemerkte, wie der Wind sie heftiger erfasste, je weiter sie aus der schützenden Umgebung der Dünen trat, durch die sie gewandert war, um den Kopf frei zu bekommen. Mit jedem Schritt pustete ihr die Kraft der Luft die Gedanken mehr aus dem Hirn. Jedes Mal, wenn sie den Fuß vor den anderen stellte, schrie eine Zelle in ihr lauter: JA!

Sie spürte, wie das Gewicht auf ihrer Brust nachließ, je mehr Salzluft in ihre Lunge drang und sie mit ihrer wohltuenden Frische füllte. Es kribbelte im Bauch, als wäre sie verliebt. Ganz langsam strahlte dieses Kribbeln aus, breitete sich aus, bis es vom Haaransatz über ihren Körper zu allen Gliedmaßen ging. Ja, durchzuckte es sie wieder und sie ließ die Schuhe samt Strümpfe in den Sand plumpsen, als sie die Arme ausbreitete, plötzlich erfüllt von dieser unfassbaren Euphorie.

Ja, hallte es durch ihr Herz. Ja, schrie es in ihrem Kopf. Ja, hörte sie sich brüllen und sie fing an, zu der Musik in ihren Gedanken zu tanzen. Sie drehte sich um ihre Achse, während der Wind an ihr zerrte und das Wasser sachte ihre Fußfesseln umspülte. Jetzt war sie frei. Endlich wieder lebendig.

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now