Von Schwarz zu bunt

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Es war einmal ein Mädchen, das lebte in einem Land, wo alles schwarz war. Das Mädchen war genauso schwarz wie der Rest des Landes. Es war nicht nur schwarz angezogen, nein, auch in ihr drin war alles schwarz, weil es so traurig war. Es wollte eigentlich gar nicht so sein, aber das Leben in Schwarzland war auch nicht sehr fröhlich. Es fühlte sich ziemlich allein da, denn es konnte niemanden sagen, dass es in ihr so finster war. Es hätte wahrscheinlich auch niemanden interessiert.

Die Menschen, die zu ihr kamen, waren viel zu sehr an sich selbst interessiert, sie hatten keinen Blick für das Mädchen. Sie sahen einfach durch es hindurch. Nur nachts fiel ein bisschen Licht ins Schwarzland, nämlich dann, wenn der Mond am Dunkel des Himmels prangte. Wenn der Letzte das Mädchen verließ, ließ es sich manchmal in dessen Silberlicht tauchen und dachte darüber nach, wie schön damals die Sonnenaufgänge und -untergänge gewesen waren, als es noch nicht im Land der Schwärze gelebt hatte.

Dann spürte es, wie das Licht tief in das Mädchen eindrang und den kleinsten Teil von ihm beleuchtete, der noch nicht schwarz war. Es wusste, dieser Fleck in ihr war es, der es noch am Leben hielt. Manchmal wunderte es sich, welche Macht dieses Segment von ihr hatte: Es ließ sich nicht von der Finsternis ersticken, auch nicht von jener, die es ansonsten ausfüllte. Das waren die Nächte, in denen es überlegte, wie es Schwarzland entkommen könnte.

Dann begann das Mädchen alle Winkel und Ecken des Landes zu durchsuchen, ob es irgendwo noch eine andere Lichtquelle gab. Es bückte sich und lugte durch die Türritzen, guckte durch Schlüssellöcher, rüttelte an den verschlossenen Toren zur Außenwelt und klopfte gegen die geschwärzten Fenster. Doch nichts wollte funktionieren. Jedes Mal gab es frustriert und noch trauriger auf.

Doch der bunte Kern leuchtete weiter, schwächer für ein paar Tage, bis das Mädchen akzeptiert hatte, dass es Schwarzland nicht entkommen konnte - zumindest vorerst. Das sagte der Teil in ihr mit solcher Vehemenz, dass es oft ziemlich genervt war davon. Es wäre leichter gewesen, sich dem Schicksal im Land der Dunkelheit zu ergeben. Doch es konnte nicht. Immer wieder suchte es nach einem Ausweg.

Dann - eines Tages - ging der letzte Besucher durchs Tor und das Mädchen setzte sich ins Gras und starrte mutlos in den Mond, als es plötzlich ein Geräusch hörte, dass es sonst niemals in Schwarzland vernommen hatte. Verwundert sah es sich um und versuchte herauszufinden, wo es seinen Ursprung nahm. Das helle Teilchen in ihr pochte erwartungsvoll und das Mädchen sprang auf und fahndete nach der Quelle des Geräusches.

Plötzlich entdeckte es, dass das Tor einen Spalt offenstand. Nicht weit, aber doch ein bisschen, sodass dieser Ton zu ihr gelangen konnte. Erstaunt starrte es auf den Spalt und ihre Finger zitterten genauso wie der Rest ihres schwarzen Körpers. Angst flutete das Mädchen genauso wie die Hoffnung, die der bunte Kern pulsierend durch die Blutbahnen schickte, die durch es führten.

Sie wusste doch nicht, wohin sie das Tor führte! Was, wenn es da noch finsterer war als in Schwarzland? Wenn da nicht mal mehr der Mond leuchtete? Wieder drang dieses Geräusch zu ihr und es wusste, dass es diesen Ton schon mal gehört hatte, doch es fiel ihr nicht mehr ein, was es war.

„Schau nach. Trau dich! Es wird alles gut", flüsterte der bunte Kern und es streckte die Hand nach der Klinke aus.

Das Metall fühlte sich kühl unter ihren schwitzigen Fingern an und es haderte nochmal kurz, ehe es den Griff herunterdrückte und gleichzeitig zog. Das Tor klemmte! Oh nein! Doch es war zu nah dran. Es wollte aus Schwarzland entkommen! Also rammte es die Füße in den Boden und zog mit Leibeskräften am Tor. Es bewegte sich! Nur ein bisschen, aber es bewegte sich!

Der Schweiß brach dem Mädchen aus und es sah sich ängstlich um. Was, sollte es jetzt entdeckt werden? Dann würden sie das Tor vielleicht noch mit Schlössern sichern, um eine Flucht zu verhindern! Doch es gab kein Zurück mehr! Der bunte Kern in ihr leuchtete noch heller als zuvor und gab dem Mädchen offenbar die Kraft, die es brauchte, um das Tor so weit zu öffnen, dass es hindurchpassen würde, wenn es sich hindurchschlängelte.

Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now