Schubladen

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„Und? Wie findest du den Aufsatz, Oma?", fragte Emily sie und sie nickte.

„Ganz gut. Du hast das Thema wirklich gut getroffen. Aber..."

„Was aber? Doch nicht so gut?"

Sie schaute ihre 17-jährige Enkelin an und zuckte mit den Schultern und erklärte: „Da sind so viele Sternchen nach manchen Wörtern. Haben die eine Bedeutung?"

„Welche Sternchen?"

„Na hier. Bei ‚Nutzer' zum Beispiel."

„Ach so. Oma, die Sterne deuten das Gendering des Wortes an. Die setze ich, damit sich auch die Frauen angesprochen fühlen. Sie zählen ja auch und in unserer Sprache wird die männliche Form als gemeingültig genutzt. Doch das ist nicht richtig. Gibt schließlich mehrere Geschlechter. Sogar mehr als männlich und weiblich."

„Aha, ich verstehe. Wenn du also ein Sternchen hinter Nutzer setzt, dann heißt das Nutzer und Nutzerinnen? Und wie machst du dann ‚divers' deutlich?"

„Ja, genau so. Es gibt verschiedene Formen, die Sternchen zu setzen. Manche schreiben dann die weibliche Form noch dahinter, so wie ich es hier gemacht habe. Du kannst es aber auch verallgemeinern, in dem du Nutzende daraus machst, dann können sich auch diverse Menschen angesprochen fühlen. So wie hier. Ich wollte keine Form unterschlagen, verstehst du? Denn divers bedeutet ja, dass Menschen sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren können, mit dem sie geboren wurden. Das nennt man nonbinär."

„Das klingt ziemlich kompliziert."

„Ist es im Grunde nicht. Ich finde es aber wichtig, dass sich kein Geschlecht zurückgesetzt fühlt. Immerhin leistet jedes einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft und sollte deswegen nicht unterschlagen werden."

Sie fragte sich automatisch, ob sie sich je zurückgesetzt gefühlt hatte, weil ihr Geschlecht nie explizit genannt wurde. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich darüber keine Gedanken gemacht. Es war einfach so. Natürlich leisteten alle Geschlechter einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft. Das hatte sie nie bezweifelt, auch wenn hinter den Worten, die Personen andeuteten, keine Sternchen oder die weibliche Form des Wortes angefügt worden war.

Zu ihrer Zeit gab es auch nur zwei Geschlechter statt drei. Sicher gab es damals schon Jungs, deren Verhalten eher Züge hatten, die als typisch weiblich galten und Mädchen, die sich eher burschikos verhielten. Aber es wurde dann einfach so akzeptiert, es wurde nie thematisiert, ob jemand sich mit dem eigenen Geschlecht nicht identifizieren konnte. Heute wurde alles unterschieden. Auch die Sexualitäten waren heute vielfältiger als je zuvor. Es war ziemlich verwirrend geworden. Früher gab es hetero, homosexuell und bisexuell. Heute gab es so viel mehr.

„Emily? Ich habe kürzlich eine Dokumentation über die Pride-Bewegung gesehen und da fielen so Worte wie ‚trans' und ‚pan'. Ich hab verstanden, dass es sich auf die Sexualität eines Menschen bezieht, aber ich habe nicht... Also..."

„Ach so. Kein Problem, Oma. Also du weißt ja, dass du heterosexuell bist, du fühlst dich vom gegensätzlichen Geschlecht angezogen. Ein Mensch, der sich vom gleichen Geschlecht angezogen fühlt, ist dementsprechend homosexuell. ‚Homo' kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet auch ‚gleich', so wie ‚hetero' eben ‚verschieden' oder ‚anders' heißt. Bisexuell ist jemand, der sich von beiden Geschlechtern angezogen ist, ‚bi' bedeutet ‚zwei' oder ‚beides'. Das ist dir auch geläufig, oder?"

„Ja, das hatte ich noch verstanden."

„Denk ich mir, du warst ja schon immer sehr offen, anders als meine Müller-Oma, die alles neue verteufelt. Na ja, ist jetzt nicht wichtig. Zurück zu deiner Frage: Als ‚trans' wird ein Mensch bezeichnet, der sein Geschlecht gewechselt hat. Also offiziell, verstehst du? Die Person hat sich einer Geschlechtsangleichung unterzogen, der biologische Mann wurde zur Frau und die natürliche Frau wurde ein Mann. Weil sie das Geschlecht geändert haben, nennt sich das Trans."

„Ok. Also waren die vorher divers?"

„Das ist eine gute Frage. Das ist durchaus möglich, je nachdem wie lange eine Person gebraucht hat, herauszufinden, mit welchem Geschlecht sie sich identifiziert."

„Ich verstehe. Was ist ‚pan'?"

„Als Pan bezeichnen sich Menschen, die sich von der Persönlichkeit eines anderen angezogen fühlen. Es ist praktisch egal, welches Geschlecht das Gegenüber hat, denn es zählt der ganze Mensch, weniger die Geschlechtsmerkmale. Sie hätten beispielsweise kein Problem, mit einem Transmenschen eine Beziehung einzugehen, der dann das Geschlecht angleichen lässt, weil die binären Geschlechtsmerkmale ja die Persönlichkeit nicht verändern."

„Hm. Ich finde das schon kompliziert."

„Warum? Es geht darum, wovon ein Mensch sich angezogen fühlt. Aber es gibt natürlich noch A-Sexualität, Demi-Sexualität, Andro-Sexualität und Gyno-Sexualität."

„Ach. Und was ist das dann?"

„Also A-Sexuelle empfinden keine oder sehr wenig sexuelle Lust. Sie mögen Beziehungen, in denen es nicht oder kaum zu sexuellen Handlungen kommt. Sie decken beispielsweise das Bedürfnis nach Nähe zu einem anderen Menschen mit Gesprächen, das reicht ihnen. Demi-Sexuelle empfinden sexuelle Lust, aber nur, wenn sie eine gute emotionale Bindung zum Gegenüber aufgebaut haben. Andro-Sexuelle fühlen sich von Personen angezogen, die eher männliche Züge haben, sowohl im Aussehen, als auch im Verhalten. Dementsprechend finden gynosexuelle Menschen andere attraktiv, die eher weibliche Verhaltensweisen haben und eher weibliche Züge. Aber letztlich ist es egal, ob es ein Mann mit einem Babyface und weiblichem Verhalten oder eine sogenannte burschikose Frau ist."

Sie sah ihre Enkelin an und schüttelte automatisch mit dem Kopf, sodass Emily sie anschaute und fragte: „Was?"

„Na ja, ich bin verwirrt."

„Wieso?"

„Na ja, in der Dokumentation ging es darum, dass alle sexuellen Gesinnungen als gleichwertig angesehen werden. Weil Liebe ja Liebe ist, unabhängig davon, wer wen liebt. Das finde ich absolut richtig."

„Das ist gut. Aber wo ist das Problem?"

„Na ja, für die Tatsache, dass ihr dafür kämpft, dass Liebe als Liebe gleichgesetzt wird und es gleichgültig wird, wer wen liebt, schiebt ihr die Menschen in ziemlich viele Schubladen. Menschen lieben Menschen, mit all ihren Eigen- und Verschiedenartigkeiten. Reicht das nicht als Prinzip? Braucht Liebe wirklich so viele Etiketten, um sie voneinander abzugrenzen?"

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Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now