Angst

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Sie hatte nicht kommen sehen, wie sich all das entwickeln würde. Da war sie so lange mit einem Mann zusammen gewesen und hatte offenbar alles ignoriert, was man als Vorzeichen so hätte deuten können. Sie hatte es lange genossen, dass da jemand war, der sich um sie gekümmert hatte. Immerhin war das in ihrem Leben nicht immer der Fall gewesen und da war es schön gewesen, dass jemandem sie und ihre Belange wichtig gewesen waren.

Sie hatte nicht begriffen, dass das Ganze auch ins Gegenteil verkehrt werden konnte. Jetzt hatte sie es kapiert. Aber jetzt war es zu spät. Jetzt war die Kacke am Dampfen und der Freund zum Feind geworden, dachte sie und versuchte das Zittern ihrer Finger unter Kontrolle zu bringen. Sie wusste jetzt, dass sie nicht mehr als Besitz gewesen war. Schön anzusehen, solange der sich still allem gefügt hatte, was er wollte. Ungemütlich und lästig, sobald der Besitz eigene Bedürfnisse einforderte.

Sie hatte nicht kapiert, was das alles bedeutete und nun fühlte sie sich ihre Freiheit nicht mehr so frei an, obwohl sie sehr lang dafür gekämpft hatte. Für sich gekämpft hatte. Aber je mehr sie die Kontrolle über ihr Leben einforderte, desto mehr entzog er sie ihr an anderer Stelle. Immer, wenn sie dachte, sie hatte sich Land erkämpft, musste sie feststellen, dass er sie immer noch einkeilte.

"Wieso?", fragte sie leise und er sah sie lächelnd an.

"Weil ich dich liebe und wir zusammengehören."

"Das ist keine Liebe, das ist Kontrolle."

"Ich habe dich nie eingesperrt, du hattest alle Freiheiten, die du wolltest. Du durftest deine Freunde sehen und..."

"Ich DURFTE meine Freunde sehen?!? Ist das nicht selbstverständlich? Dass ich auch innerhalb einer Beziehung ein Eigenleben habe, ist nicht ok?"

Er wischte ihren Einwand mit einem Schulterzucken weg, so wie er es immer getan hatte. Nur diesmal bekam sie Gänsehaut. Es war wie bei dem Lied "Every breathe you take" von The Police. So viele glaubten, es ginge um Liebe, doch letztlich ging es um Kontrolle. Er wollte sie genauso kontrollieren, wie der Mann in dem Lied. Jetzt wusste sie es. Sie hatte es nur nicht sehen wollen oder können. Sie fühlte sich wie das "Animal" bei Maroon 5.

"Du hast es doch gut bei mir. Ich hab dir die Welt zu Füßen gelegt, oder nicht?"

"Solange ich so funktioniert habe, wie du das wolltest, ja. Wenn nicht, dann hast du mich das spüren lassen."

"Ich habe nie die Hand gegen dich gehoben."

"Man kann auch mit Worten und Taten bis ins Mark verletzen."

"Du machst eine Mücke zu einem Elefanten. Du bist völlig paranoid. Ich will dir nichts böses."

"Hör zu. Ich habe mich von dir getrennt."

"Völlig zu unrecht. Ich habe dir nichts getan."

"Das siehst nur du so. Ich möchte, dass du gehst."

"Das werde ich nicht. Du hast dich für mich entschieden."

"Und jetzt habe ich mich dafür entschieden, ohne dich zu leben."

"Du kannst gar nicht ohne mich leben. Auch jetzt nicht. Welches Geld sichert dein Leben? Du wirst immer von mir abhängig sein."

"Nur noch so lange, bis ich aufgeholt hab, was ich deinetwegen aufgegeben hatte."

"Ich habe immer unterstützt, dass du arbeiten gehst."

"Solange es zu deinen Bedingungen war und die waren schwer zu erfüllen."

Wieder dieses Grinsen und wieder schluckte sie die Panik herunter. Sie wollte das nicht. Aber hatte sie eine Handhabe? Er hatte sie nie körperlich verletzt. Aber er respektierte nicht, dass sie getrennt waren. Immerhin stand sie bis vor ein paar Minuten nackt im Bad seines Hauses, das sie noch gemeinsam bewohnten, solange, bis sie in ihre Wohnung einziehen konnte. Sie hatte die Tür jedoch logischerweise abgeschlossen. Wieso stand er vor ihr?

"Sag ich doch. Du bist ohne mich gar nicht lebensfähig. Also spar dir doch die ganze Mühe und komm gleich zurück. Du bist auch viel zu abhängig von Zuwendung. Wer wird dir die geben, hm?"

"Du bestimmt nicht mehr."

"Denkst du, die Kerle werden Schlange stehen? Du bist eine vier auf einer Skala bis zehn. Jede Nutte ist schöner als du."

"Hat dich nicht gestört, wenn du scharf warst."

"In der Not..."

"Wenn ich so schrecklich bin, wieso lässt du mich dann nicht in Ruhe? Wenn ich dir so zuwider bin? Ich meine, das hast du mir ja jetzt lang genug beigebracht, wie eklig ich bin, aber wieso lässt du mich nicht gehen?"

"Weil du zu mir gehörst."

"Ich gehöre nur mir."

"Du täuschst dich. Du trägst noch die Spuren deines Eheringes an deinem Finger, du hast einen Teil von mir unter deinem Herzen getragen, jedes Mal, wenn du schwanger warst. Du gehörst zu mir."

"Ich gehöre nur mir."

"Rede dir das nur ein. Wir wissen doch, wie du bist. Du hältst es niemals allein aus. Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Wieso lässt du dich nicht von mir umsorgen?"

"Ich will, dass du dich umdrehst und aus dem Raum verschwindest."

"Das ist mein Haus. Du lebst von meinem Geld. Du nimmst meine Kinder mit dir, in dem Auto, das ich gekauft habe, mit den Möbeln, die ich finanziert habe. Du bist ein Nichts."

"Das bin ich nicht."

"Doch. Das bist du. Und tief in dir drin weißt du das."

"Ich werde nicht bleiben."

"Das sagst du nur."

"Geh. Sofort. Jetzt. Du hast dir von außen die Badtür aufgeschlossen, während ich unter der Dusche stand. Du respektierst meine Privatsphäre nicht."

"Wir sind verheiratet, ich kenne dich nackt, wozu brauchst du Privatsphäre?"

"ICH WILL, DASS DU GEHST! JETZT! Oder... oder ... oder..."

"Willst du die Polizei rufen? Was willst du ihnen sagen? Du bist in meinem Haus, wir sind verheiratet und ich habe dich nackt gesehen. Das ist kein Verbrechen."

Jetzt lachte er und sie wollte heulen. Sie hatte keine Handhabe. Sie hatte nichts, nicht mal genug Geld, um ihre Kinder durchzubringen. Er hatte Recht. Sie war abhängig. Aber genau darum ging es. Nicht mehr abhängig zu sein. Frei sein und leben. Sie war jetzt nichts, aber sie konnte wieder etwas sein.

Sie zuckte zurück, als er lächelnd die Träne auffing, die sie nicht zurückdrängen hatte können. Er genoss das, das sah sie ihm an. Er würde trotzdem nicht gewinnen. Sie war vielleicht nur eine vier auf einer Skala von zehn und womöglich hatte sie die letzten Jahre an einen Mann verschwendet, der sie nicht zu schätzen wusste und als Besitz ansah. Aber sie war immer noch sie. Sie wusste, wer sie war und was sie konnte. Sie hatte sich gerade erst warmgelaufen. Er würde nicht gewinnen.

Wenn Gedanken Flügel wachsen...حيث تعيش القصص. اكتشف الآن