Der Sprung

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„Hey Eliza", raunte er, als er zu ihr trat und automatisch den Arm um ihre Taille legte.

„Nathan. Was willst du?"

Ihre Stimme klang schroff und sie beeilte sich nicht nur, seinen Arm wegzuschieben, sondern auch einen Schritt zur Seite zu weichen. Und wenn er ehrlich war, hatte er nichts anderes verdient. Trotzdem nervte es ihn. Sie sollte nicht so über ihn denken, wie es offenkundig tat. Außerdem war es einfach ein beschissenes Gefühl, wenn sich die Brust zusammenzog und man vor Schuldgefühlen kaum noch atmen konnte.

„Ich will das, was ich schon immer wollte, Eliza. Dich", sagte er und sie starrte ihn einen kurzen Moment fassungslos an, ehe sie schnaubte.

„Ach ja? Das hättest du dir vorher überlegen müssen, Nathan."

Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und er starrte ihr seufzend hinterher. Wie er dieses Feuer hinter der kühlen Fassade doch liebte. Eliza war nicht kühl, nicht wenn er sie...

Mach mal halblang, Nathan. Das hast du dir verdorben', erinnerte er sich rüde und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen sich in ihrem Haar fingen und schimmernde Reflexe hineinzauberten, während sie davoneilte.

Das Bedürfnis, ihr zu folgen, ihr Haar zu berühren, ihren Duft in sich aufzunehmen, ihre weiche Haut an den fast freien Schultern zu fühlen, wurde fast übermächtig. Doch auch das war Vergangenheit. Er sollte sie ziehen lassen. Das wäre fair. Denn er würde sie sonst in den gleichen Abgrund ziehen, in dem auch er gefangen war.

Doch er konnte nicht anders. Er hatte sich wochenlang auf dieses Treffen gefreut, denn er hatte geahnt, dass sie gesandt werden würde, um die Belange ihrer Gemeinschaft zu klären - zu der er vor nicht allzu langer Zeit ebenso gehört hatte.

Bis du es verkackt hast, Nathan', hallte durch seine Gedanken und er ballte automatisch die Fäuste, um die Stimme in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen.

Das wusste er doch. Er wusste, dass er es verkackt hatte. Schließlich dachte er an nichts anderes mehr. Wenn er doch nur wüsste, was diese Unzufriedenheit ausgelöst hatte, für die er sich verdingte! Doch die Zeit zurückdrehen konnte nicht mal jemand wie er. Diese Macht hatte niemand.

Er war ihr trotzdem ein paar Antworten schuldig. Auf die Fragen, die sie nicht stellte, weil er sie so verletzt hatte. Also entfaltete er seine Flügel und ihm kam der typische Geruch der Gefallenen entgegen: Schwefel. Das zeichnete ihn, neben seinen jetzt rabenschwarzen Federn, neuerdings aus. Er rümpfte automatisch die Nase und seufzte nochmal abgrundtief, ehe er der Frau hinterherflog, die sich zwischen die ganzen anderen Engel hindurchgezwängt hatte und so vor ihm geflohen war.

Er war nicht der einzige mit schwarzen Flügeln hier. Dieses Treffen unter der Sonne, auf neutralem Boden, war dafür gedacht, dass die sogenannten „Gefallenen", wie er einer war, und die restlichen Engel sich gegenseitig ihre Belange vortrugen. Aber daran hatte er kein Interesse. Er hatte nur Eliza sehen und ihr erklären wollen, warum er diese Entscheidung getroffen hatte.

Jetzt, wo er sie gesehen hatte, wusste er es und er verdammte sich noch mehr dafür. Es war ein Fehler gewesen. Er hatte die falsche Entscheidung getroffen. Und es gab nur einen Weg, wie er sich aus seiner Misere retten konnte. Der führte auch noch ausgerechnet über Eliza. Doch das war es nicht, weswegen er mit ihr reden wollte. Er hatte den Schmerz in ihrem Blick sehr wohl wahrgenommen.

Er musste ihn ihr nehmen. Aber dazu musste er sie erstmal finden, was offenbar nicht so leicht war, denn sie hatte das Treffen der Engel, das halbjährlich stattfand, wohl verlassen. Sie würde nicht ... oder doch? Er musste sichergehen, also flog er dorthin, wo sie sich immer getroffen hatten, als er noch ihr Geliebter gewesen war.

Wenn Gedanken Flügel wachsen...Where stories live. Discover now