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Kiara
21:32 Uhr

"Fährst du dieses Wochenende zu deiner Familie?"

"Nein, habe Schicht.", murmel ich, während ich den glänzenden Stoff des viel zu kurzen Kleides nach unten ziehen.

"Hier, probiere die mal. Die passen perfekt zu dem Fummel."
Ines hält mir ein paar schwarze High Heels vor die Nase, deren Absätze schwindelerregend hoch sind.

"Ich passe. Die sind mir zu hoch.", lehne ich ab und ziehe mir meinen Hoodie über. Bis ich arbeiten muss, habe ich noch knapp eine Stunde Zeit. Außerdem ist es kalt und feucht, einfach nur ungemütlich.

"Ach komm, stell dich nicht so an.", verdreht sie die Augen und stellt sie mir vors Bett.
"Ich geh was trinken, wir sehen uns."

"Bis dann.", murmel ich und versuche mir währenddessen einen Eyeliner zu ziehen.
Ich konnte mich noch nie schminken, geschweige denn einen Eyeliner ziehen. Meine Familie hatte nie das Geld für Make Up oder teure Pflegeprodukte, deshalb habe ich mich nie damit beschäftigt.

Stattdessen habe ich draußen auf der Straße getanzt.

Zwischen dem Müll und den alten Möbeln, die die Leute auf die Straßen gestellt haben.

Zwischen den Drogenjunkies und den Obdachlosen und den Leuten, die schwer bewaffnet durch die Straßen laufen.

Der Eyeliner ist zu dick und nicht makellos. Er ist nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt habe. In mir liegt die Hoffnung, dass meine blutroten Lippen von dem Desaster auf meinem Lid ablenken, denn ich weiß auch, dass Männer auf so etwas nicht achten.

Ihnen ist das Outfit und der Körper wichtig. Und wenn es dunkel und nebelig ist, macht sich sowieso keiner die Mühe in mein Gesicht zu schauen.
Unzufrieden binde ich meine schwarzen Haare zurück, um sie unter meiner blonden Perücke zu verstecken. Niemand soll mich erkennen, wenn ich das tue, was ich nun mal tun muss, um zu überleben.

Niemand soll Kiara sehen.

Das hier bin nicht ich, dass hier ist eine andere Frau. Eine Frau, die ich hasse. Eine Frau, vor der ich mich ekel. Eine Frau, die sich schämt.

Vor sich selber und vor ihrer Familie.

Und gleichzeitig eine Frau, die es schafft in Sao Paulo zu überleben. Eine Frau, die es schafft ihre Familie zu ernähren, sodass sie nicht in den Favelas verhungern muss.

Ich trage den dunkelgrünen Lidschatten auf meinen Augen auf und verwische ihn mit dem Ringfinger. Das grüne Schimmern gefällt mir, obwohl ich mich jetzt schon darüber ärgere, dass ich mich später wieder abschminken muss. Das dicke Make Up sieht ölig und fettig aus und entspricht überhaupt nicht meiner Hautfarbe.

Es ist zu hell und irgendwie fleckig.

Aber immerhin sieht man meine Sommersprossen nicht.

Mit Stolz betrachte ich mich im Spiegel. Nicht, weil ich wirklich stolz auf das bin, was ich hier tue, sondern stolz, weil ich mich selber nicht wieder erkenne. Das einzige Ziel, das ich an diesem Abend hatte, habe ich erfüllt. Ich habe mal wieder eine neue Person erschaffen und genau das macht mich stolz.

Bevor ich nach vorne gehe, drehe ich mich im Spiegel, um sicherzugehen, dass alle meine Haare verdeckt sind. Dann ziehe ich den Pullover aus und werfe ihn achtlos auf mein kleines Bett.

"Auf in den Kampf.", spreche ich mir Mut zu und stecke mein Handy in meinen BH. Die laute Musik aus dem Club kann ich bis in mein Zimmer hören und bereits jetzt gehen mir die feiernden Menschen auf die Nerven.

Verzeihung, ich meine Männer.

Die feiernden Männer.

Die Männer, die hier hin kommen, weil sie Arschlöcher sind und ihre armen Frauen betrügen. Frauen, die sie geschwängert haben und jetzt nicht mehr warten wollen, bis sie wieder mit ihr schlafen können.
Oder Frauen, die sich um ihre Kinder kümmern und es deshalb keine Zeit für Intimität gibt. Männer, die das nicht verstehen. Männer, die denken, dass das wichtigste auf dieser Welt ihre Bedürfnisse sind.

Männer, die noch nie im Haushalt geholfen haben und die nicht wissen, was es bedeutet, eine Familie zu haben.

Männer, die auf dicke Hose machen, aber keine Verantwortung übernehmen wollen.

Ich ziehe die Tür zu meinem Zimmer zu und schließe zwei mal ab. Es wäre das schlimmste für mich, wenn jemand in mein Zimmer kommt, den ich nicht eingeladen haben. Das hier ist der letzte Rest Privatsphäre, der mir noch bleibt.

Meine High Heels, die bei weitem nicht so hoch sind wie die von Ines, treffen rhythmisch im Tempo meines Ganges auf die schwarzen Marmorfliesen. Bei jedem Schritt spiegelt sich mein Körper auf dem teuren Boden.

"Da bist du ja. Los komm, es wird immer voller.", reißt mich Tevez aus meinem Gedankentunnel und zieht mich hastig hinter sich her. Ich habe kaum Zeit mich zu recht zu finden, da hat er mich hinter die Bar geschoben.

"Na los, bedien die Gäste! Wofür habe ich dich eingestellt?", wird er frech und verschwindet kurz darauf in seinem kleinen Büro hinter der Bar.

Anstatt das zu tun, was er von mir verlangt, bleibe ich stehen. Ich kann keinen Muskel meines Körpers bewegen. Wie ein Stein stehe ich hinter der Bar, während ich die Musik nur gedämpft wahrnehme. Ich sehe alles glasklar, doch tun kann ich nichts. Es ist, als würde mein Leben an mir vorbeiziehen, als wäre ich in einer Art Zeitlupe gefangen.

Das klirren eines Rings, der hart auf den Tresen der Bar trifft, reißt mich zurück in die Realität.

"Whiskey.", ertönt eine raue Stimme, woraufhin ich mich umdrehe, um zu sehen, wer so abwertend mit mir redet.

"Hey du, ich hätte gerne einen Whiskey.", ahme ich ihn mit zusammen gekniffenen Augen nach.

Seine Mundwinkel zucken, sodass sich auf seiner Wange zwei Grübchen bilden. Das dunkle Haar liegt perfekt auf seinem Kopf und auch sein Anzug sitzt einwandfrei. Die goldenen Manschettenknöpfe, die an dem schwarzen Stoff angenäht sind, kosten vermutlich ein Vermögen.

Genau wie die silberne Rolex, die an seinem Handgelenk glitzert.

"Whiskey.", wiederholt er sich absichtlich unfreundlich, um mich zu provozieren.

Schwarz wie die NachtWhere stories live. Discover now